Scarlett Taylor - Mitternacht. Stefanie Purle

Scarlett Taylor - Mitternacht - Stefanie Purle


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plötzlich wieder Pfoten!“

      Ich nehme seine wild gestikulierenden Hände in meine und halte sie fest. „Wie ist das möglich?“

      „Keine Ahnung! Meine Vorfahren haben seit Jahrhunderten Dämonen im Auftrag des Vatikans getötet, um den Werwolffluch loszuwerden. Wir sind Mannwölfe, doch nun habe ich Pranken wie ein Werwolf, wenn ich mich verwandle!“

      Mein Blick gleitet auf seine riesigen Hände in meinen und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass diese Hände zu Pfoten werden könnten. Wenn er sich verwandelt, sind sie von kurzem, weichen Fell bedeckt, mehr aber auch nicht. Ich weiß wieviel ihm, seiner Schwester Bianca und seinen verstorbenen Eltern daran lag, den Werwolffluch loszuwerden. Daher ja auch der Pakt mit dem Vatikan und die lange Geschichte der Belger-Dämonologen. Chris führt die Arbeit seiner Eltern fort, damit seine Nichte Riva und alle ihre Nachkommen noch weniger unter dem Fluch zu leiden haben. Und nun soll das, wofür ein Mannwolf ein ganzes Leben lang Dämonen getötet hat, umsonst gewesen sein?

      „Ich verstehe das nicht“, gebe ich zu und schüttle den Kopf.

      Chris nimmt seine Hände aus meinen, dreht sich mit einem Schnauben zum Bett und wirft den Deckel des Koffers zu. „Ich auch nicht!“, knurrt er. „Am liebsten würde ich sofort mit dem obersten Exorzisten des Vatikans sprechen und ihn fragen, was er dazu zu sagen hat!“

      „Das sollten wir tun, auf jeden Fall“, stimme ich ihm zu und gehe schon im Kopf die Route durch. Von der Küste nach Frankreich und danach zum Vatikan. „Du könntest auch mit Roberta sprechen. Vielleicht weiß sie etwas? Außerdem stellt sich die Frage, ob es nur dir, der ganzen Belger-Familie oder gar allen Mannwölfen so geht wie dir.“

      Seine Augen werden größer. „Bianca! Ich muss mit Bianca sprechen. Ich muss wissen, ob es ihr auch so ergeht.“

      Ich nicke und blicke auf meine Uhr. „Laut Kitty müssen wir in zehn Minuten verschwinden, wenn wir noch vor den ankommen Druiden weg sein wollen.“

      Chris zieht sein Handy aus seiner Hosentasche, geht auf die Fensterfront mit Blick auf den See zu und wählt Biancas Nummer. Ich werfe unsere restlichen Sachen in eine Reisetasche und gehe zurück ins Erdgeschoss, um Chris die Ruhe für das Gespräch zu gönnen, die er braucht.

      Am Fuß der Treppe angekommen, begegne ich Dahlia und Falk, die von ihrem Spaziergang zurück sind und gerade zur Haustür hereinkommen. Verwirrt und ein wenig verlegen zugleich schauen sie sich in diesem Chaos um, während Kitty mit wallenden Gewändern und bis unter die Arme beladen an ihnen vorbeirauscht.

      Falk sucht meinen Blick. „Wir wollen nicht stören, es scheint, als habt ihr alle Hände voll zu tun.“

      Auch wenn ich mich eigentlich beeilen muss, nehme ich mir ein paar Minuten Zeit, um mit den beiden zu besprechen, wie es nun weitergehen soll. Mit wenigen Worten kläre ich sie darüber auf, dass Heerscharen von Druiden hierher unterwegs sind, damit ich sie ebenfalls zu Druidenhexen mache, und das wir deswegen schnell wegmüssen, da mir die Suche nach meiner verschwundenen Mutter momentan wichtiger ist.

      „Wenn ihr wollt, könnt ihr hierbleiben“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sein werden und was ihr so vorhabt, nun da ihr in Freiheit seid. Aber bevor ihr draußen oder auf der Straße schlaft, könnt ihr stattdessen gerne weiter unser Gästezimmer benutzen.“

      Falk schüttelt mit dem Kopf. „Danke, ich weiß deine Gastfreundschaft wirklich zu schätzen, Scarlett, aber du hast schon genug für uns getan.“ Er blickt über seine Schulter zu Dahlia. „Wir haben viel zu bereden, da ihre Erinnerungen an die Libelle nicht mit meinen übereinstimmen. Außerdem wollen wir nach unseren Freunden von früher sehen, die sich damals nicht der Libelle angeschlossen haben.“

      Da ich so kurz angebunden bin, kläre ich sie nicht darüber auf, dass ich die Vergangenheit mithilfe des Dschinns verändert habe und Dahlia deshalb wahrscheinlich andere Erinnerungen an ihre Zeit innerhalb der Libelle hat. Stattdessen nicke ich verständnisvoll und ziehe eine meiner Visitenkarten aus meiner hinteren Hosentasche. „Okay. Hier ist meine Nummer. Ruf an, wenn irgendwas ist, okay?“

      Falk nimmt sie mir ab und lächelt. Dann breitet er die Arme aus und zieht mich zu sich. „Ich danke dir für alles, Scarlett“, sagt er und klopft auf meinen Rücken.

      „Los, los! Wir haben keine Zeit für Sentimentalitäten!“, unterbricht Kitty unsere Umarmung. „Chris, bist du soweit? Wir müssen los! Naomi, hast du alles?“

      „Lasst euch so viel Zeit, wie ihr braucht. Und wenn ihr geht, zieht ihr einfach die Haustür hinter euch zu, okay?“

      Falk nickt und Dahlia lächelt mir hinter seiner Schulter zu. „Passt auf euch auf“, sagt er noch, dann verschwinden die beiden nach oben.

      Wenige Minuten später sitzen wir im vollbeladenen Bulli und verabschieden uns von Darius. Er steht vor dem heruntergelassenen Beifahrerfenster und stützt den Arm auf seinem Druidenstab ab.

      „Bleib nicht so lange weg, Scarlett. Sie werden nach all den Jahren des Wartens ungeduldig sein“, rät er mir und schnuppert in der Luft als könne er Seinesgleichen schon ganz in der Nähe riechen.

      „Wenn sie Jahre gewartet haben, dann werden ein paar Tage mehr wohl nichts mehr ausmachen“, sage ich und hoffe, dass es stimmt.

      „Nun fahr los, Chris!“, ruft Kitty von der Rücksitzbank aus und klopft auf die Lehne des Fahrersitzes.

      Darius tritt einen Schritt zurück und senkt den Kopf zum Abschied. Ein schwaches schwarzes Leuchten ist auf seiner sternförmigen Skalpnarbe zu sehen und ich schaue rasch zu Chris, um mich zu vergewissern, dass er es auch gesehen hat. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat er das dunkle Leuchten ebenfalls gesehen. Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht mich fragend an, doch ich kann nur mit den Schultern zucken.

      Chris schaltet in den ersten Gang, tritt aufs Gaspedal und lenkt den Bulli auf den schmalen Waldweg. Naomi, Kitty und ich schauen allesamt schweigsam aus dem Fenster und suchen den dichten Wald nach Anzeichen von Druiden ab, doch zum Glück sind sie noch nirgends zu sehen. Als wir den Wald verlassen und hinaus auf die Landstraße fahren, die zwischen unzähligen Feldern verläuft, möchte ich erst erleichtert aufatmen, doch dann sehe ich, worauf Naomi schon mit ihrem Finger zeigt: Auf dem schmalen Pfad zwischen einem Kornfeld und einem Maisfeld laufen sie. Hunderte Druiden, alle in beige-braune Leinenkutten gekleidet, die Kapuzen über die Köpfe gezogen, marschieren im Gleichschritt gen Süden, Richtung unseres Hauses. Die Schlange scheint kein Ende zu nehmen.

      Chris geht vom Gas und lässt den Wagen ausrollen. Er ist genauso überwältigt von diesem Anblick, wie wir alle. Noch nie haben wir so viele Druiden auf einmal gesehen.

      Doch dann besinnt Chris sich und gibt wieder Gas. Kurz bevor der anführende Druide die Straße erreicht, rauschen wir an ihnen vorbei. Kitty, Naomi und ich drehen uns um und beobachten die Schlange aus der Heckscheibe heraus. Einige Druiden heben den Kopf und blicken aus den dunklen Öffnungen ihrer Kapuzen in unsere Richtung. Mein Herz zieht sich ängstlich zusammen und leichte Übelkeit steigt in mir hoch. Wissen sie, dass ich in diesem Wagen sitze? Woher wussten sie überhaupt, wo ich wohne? Und wer hat ihnen erzählt, dass ich nun in der Lage bin, meine Magie auf sie zu übertragen?

      Wie auch immer sie an ihre Informationen kommen, ich kann nur hoffen, dass sie uns nicht bis zu Elvira oder gar ganz nach Frankreich folgen!

      Der Beginn der langen Fahrt wird von bedrückender Stille untermalt. Jeder von uns scheint in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein, und Kitty lauscht wahrscheinlich ungeniert jedem gedachten Wort. Je mehr wir uns von unserem Wald entfernen, umso häufiger sehe ich dunkle Schatten am Straßenrand aufblitzen. Sie huschen über die Straße, oder lauern hinter Baumstämmen am Feldrand, um dem Bulli hinterher zu starren. Ich reibe mir die Augen und schüttle den Kopf, als könnte ich sie damit vertreiben, doch im nächsten Moment tauchen schon wieder welche auf und kriechen wie halbseits gelähmte Seelöwen über die Straße. Chris überfährt sogar einige von ihnen, zeigt jedoch keine Reaktion dabei und der Bulli ruckelt ebenfalls nicht. Seufzend lehne ich meinen Kopf zurück und betrachte die vorbeiziehenden Wolken, denn dort oben sind


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