Sonnenwarm und Regensanft - Band 4. Agnes M. Holdborg
dass sie glücklich bei euch waren. Sie lieben Isinis und dich.«
»Wir waren auch glücklich mit ihnen, Anna. Wir dachten, sie gehörten ganz allein uns. Ja, wir dachten damals tatsächlich, Vitus würde sie gar nicht wollen, da sie ihn zu sehr an Veronika erinnerten und er dies in seiner Verbitterung nicht ertrug. Wir ahnten ja nichts von seiner Verzweiflung und Not.«
Estra stand auf, blickte zum Fenster hinaus und drehte sich ihr danach wieder zu. »Der Tod unserer Eltern hatte uns beide schwer getroffen. Die Zwillinge haben mir dabei geholfen, mein Gleichgewicht zurückzufinden. Es tat so gut, sich um sie zu kümmern. Sie waren einfach bezaubernd. Mein Bruder hingegen quälte sich über achtzehn Jahre lang. Allein. Ohne Zuspruch und Wärme. Das macht mir immer noch schwer zu schaffen. Das und die Tatsache, dass Vitus zu allem Überfluss glaubt, indem er die Kinder bei uns ließ, müsse er uns gegenüber ein schlechtes Gewissen haben.« Estra schnaubte laut auf. »Dabei haben seine Kinder mich gerettet.«
»Ich denke, dass Vitus euch eher dankbar ist, weil ihr die beiden so behütet und glücklich habt aufwachsen lassen. Er ist ihr Vater und hat festgestellt, zu welch großartigen Halbelfen ihr sie erzogen habt. Ich weiß genau, dass er unendlich froh darüber ist. Der Rest ist Geschichte, Estra. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber du hast ebenso wenig Grund für ein schlechtes Gewissen gegenüber Vitus.«
Estra trat vor Anna, zog sie vom Sessel und nahm sie in den Arm.
»Als Viktors Ziehvater möchte ich dir sagen, wie glücklich ich bin, dass er dich gefunden hat, Anna.« Nachdem er ihr die Stirn geküsst hatte, sah er sie mit seinen warmen Augen an. »Du bist die Richtige für ihn. Nur du.«
Anna wurde verlegen. Estra hatte sich ihr gegenüber schon immer äußerst freundlich verhalten, doch diese Worte, so voller Liebe und Wärme, berührten sie tief und ließen sie erröten. Estra spürte natürlich ihre Verlegenheit und lächelte.
»Unsere bescheidene Anna wird mal wieder rot. Das brauchst du nicht. Ich wollte dir nur einmal sagen, wie froh Isinis und ich sind, dass Viktor mit dir endlich die Richtige gefunden hat.«
»Endlich die Richtige?«
Estra bedachte sie mit einem prüfenden Blick. »Du bist noch sehr jung, Anna, und dennoch schon so erwachsen für dein zartes Menschenalter. Das ist eine typisch elfische Eigenart. Elfen sind sozusagen frühreif. Viktor war achtzehn, als er dich kennenlernte. Also ein erwachsener junger Mann, der bereits manche Erfahrungen gemacht hatte. Es muss dir doch bewusst sein, dass er schon vor dir Kontakt zu Mädchen und Frauen hatte, so, wie du bestimmt auch vor ihm einen Freund hattest.«
Anna starrte ihn mit großen Augen an. Offenbar erkannte Estra seinen Fehler.
»Ich hätte dir das nicht erzählen sollen. Das wäre Viktors Sache gewesen, Anna. Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass er dein erster Freund ist.«
»Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich bin nämlich voll und ganz deiner Meinung, Estra. Mir hätte das eigentlich klar sein müssen. Nur habe ich mir darüber wirklich nie Gedanken gemacht. Wirklich niemals.«
Ein merkwürdig unangenehmes Ziehen und Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit. Das war ein Gefühl, das Anna ganz und gar nicht behagte. Mit aller Macht versuchte sie, es vor Estra zu verbergen, und hoffte inständig, dass es gelänge. Sie wusste natürlich, dass ihm ein abrupter Themenwechsel auffallen müsste. Doch wollte sie einfach nicht mehr darüber reden.
»Hast du eigentlich mitbekommen, dass sie die Urteilsverkündung für Herrn Zitt verschoben haben, weil der letztens im Gerichtssaal ausgetickt ist? Der Richter überlegt, ein weiteres psychiatrisches Gutachten anzufordern. Könnte tatsächlich sein, dass mein ehemaliger Biologielehrer für lange Zeit weggesperrt wird.«
Ein kleines Lächeln umspielte Estras Lippen. Höchstwahrscheinlich hatte er Annas klägliches Ablenkungsmanöver sofort durchschaut, sagte aber nichts dazu. Stattdessen zog er sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Dafür, was dieser Mann dir und anderen jungen Frauen angetan hat, gibt es keine Wiedergutmachung. Keine Strafe wäre hart genug, Anna. Ich hoffe trotzdem, es ist dir Trost und Beruhigung, wenn du weißt, dass der Kerl hinter verschlossenen Türen bleiben wird. Wie hat Vitus das genannt: Klapse?«
Anna schaute zu ihm auf und lächelte matt über das flapsige Wort aus der Menschenwelt, das den Elfen so fremd war. Doch dann wurde sie wieder ernst, da sie mit einem Mal begriff, wie sehr ihr die ganze Sache damals zugesetzt hatte.
»Ja, das ist es. Seit dem Tag im Gericht, seit ich den Mistkerl noch einmal gesehen und ihn geohrfeigt habe, geht es mir viel besser. Bis dahin war mir eigentlich gar nicht klar, dass es mir schlecht ging. Ich hatte es wohl verdrängt.«
Nachdem Estra ihr erneut Platz angeboten hatte, setzte auch er sich. »Wir alle haben gespürt, dass du dich hinter einer schützenden Mauer verschanzt hattest, die du selber einreißen musstest. Nun ist diese Mauer gefallen. Endlich. Das ist schön. Du gehst sogar gestärkt aus der Sache hervor. Nicht, dass ich diese Untat und deine furchtbare Erfahrung gutheiße. Es ist dennoch eine gute Sache, wenn man eine schreckliche Erfahrung in einen starken Wesenszug umwandeln kann. Du wirkst vielleicht zerbrechlich, Anna, doch du bist eine starke Frau. Das hast du bereits mehrmals unter Beweis gestellt.«
»Nun ist es aber genug mit der Lobhudelei. Mir wird schon ganz mulmig davon.«
Nachdem er einen Schluck von seinem Saft getrunken hatte, sah er sie vergnügt an. »Ja, so hat Vitus dich von Beginn an beschrieben: zu zurückhaltend, zu bescheiden. Aber lassen wir das. Erzähl mir lieber von deinem ersten längeren Ausritt mit Gertus.«
Sie lachte hell auf, froh darüber, vollends von ihren seltsamen Empfindungen ablenkt zu werden.
»Vitus und Loana – ach ihr alle – hattet natürlich recht. Das Pferd macht das meiste von ganz allein. Man muss nur mit ihm sprechen. Gertus ist so ein Lieber«, schwärmte sie. »Noch dazu ich finde ihn ausgesprochen hübsch mit seinem gescheckten Fell. Außerdem ist er sehr klug. Er hat meine Angst, auf seinen Rücken zu springen, sofort wahrgenommen. Deshalb macht er sich jetzt immer klein, indem er seine Vorderbeine einknickt.«
… Anna behielt für sich, dass sie es trotzdem ein wenig vermisste, sich an Viktor zu schmiegen, wenn sie mit ihm gemeinsam auf Ariella ritt. Allerdings verkürzte sich die Reisezeit aufgrund ihres eigenen Pferdes deutlich, was natürlich von großem Vorteil war.
Überdies hatte sie sich sogar schon einmal allein ins Elfenland gewagt, um Viktor zu