Ost-wärts. Thomas Helm
Hände tief in den Taschen seiner »Ein-Strich-kein-Strich« Wattejacke vergraben stapfte Justus Faber durch das verschneite Wohnlager. Den Webpelzkragen der Jacke hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen.
Solch ein Kleidungsstück wie dieses besaßen zumeist nur Leitungskader oder auch Kumpels, die über Beziehungen verfügten.
Ursprünglich wurden damit Offiziere der NVA ausstaffiert. Doch auf unbestimmten Wegen, die keiner nachvollziehen wollte, gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl davon auch an die Trasse. Sie trugen sich bequemer und schauten vor allem besser aus als die Jacken der gewöhnlichen, allgemeinen Permbekleidung.
Die Schapka hatte er bis auf die buschigen Augenbrauen hinab in die Stirn gezogen. So blinzelte der große, hagere Enddreißiger für einen kurzen Moment in die Sonne, die erst vor wenigen Minuten aufgegangen war. Sie stand noch dicht über dem bewaldeten Horizont am stahlblauen Himmel, an dem sich keine Wolke befand.
Unter den Sohlen seiner Filzstiefel knirschten Eis, Schnee und dunkler Streukies. Sein Atem hatte den Schnauzbart bereits nach den wenigen Augenblicken im Freien völlig vereist. Zum wiederholten Male zog er die laufende Nase hoch.
Beim raschen Gehen schaute sich Faber prüfend nach allen Seiten um. Der angewehte Schnee reichte an den Wohnbaracken fast bis zu den Dachkanten hinauf. Nur die freigewühlten Schneisen zu den Eingängen unterbrachen in regelmäßigen Abständen die aufgetürmte weiße Front.
Mit festem Schritt bog Faber nach rechts auf den Weg ab, der direkt zum niedrigen, breit dahingestreckten Raumzellenbau des Versorgungsobjektes führte. An das sich wiederum die große Marienberger Halle unmittelbar anschloss.
Davor befand sich das langgestreckte Areal des Freizeitzentrums. Hier feierten an warmen Sommerabenden hunderte Kumpels gern bis tief in die hellen Nächte hinein.
Die vielen selbstgezimmerten Tische und Sitzbänke konnte man derzeitig unter der dicken Schneedecke jedoch nur erahnen.
Begrenzt wurde die Fläche linker Hand von der ausladenden Lagerhalle der Versorgung. In deren Aluminiumfassade glänzte grell die aufgehende Sonne. Zudem hingen dort die Reste eines roten Spruchbanners herab. Dieses Transparent, auf dem man einst einen kämpferischen Spruch lesen konnte, hatte vermutlich der letzte Schneesturm erfolgreich zerfetzt.
Faber schaute kurz hinüber zu dem Schandfleck, schüttelte den Kopf und schritt weiter auf den Eingang des Versorgungsobjektes zu.
Auch an der langen Front dieses Zweckbaus türmte sich der Schnee bis hoch zu den Traufkanten. Aus den Dachentlüftungen des Küchentraktes stieg weißer Dampf in den blanken Himmel empor. Es roch nach gebratenem Fleisch.
Der Windfang vor der Eingangstür war fast zur Hälfte unter den Schneemassen verborgen. Beiderseits davon wuchsen vor den Fenstern ebenso wie entlang der angrenzenden Marienberger Halle armdicke Eiszapfen vom Dach bis in den tiefen Schnee hinab.
Faber wusste natürlich, das heute Abend in der »Marienberger« die Faschingsfeier der Baustelle stattfinden sollte. Einige der Vorbereitungen wollte er noch überprüfen.
Auf dem Holzrost im Windfang trampelte er den Schnee von seinen Filzstiefeln ab. Dann riss er die Tür auf und stapfte am »Brett« vorbei, das um diese Zeit noch geschlossen war. Durch die zweite Tür betrat er den Speisesaal.
Warme Luft vermischt mit Küchendunst schlug ihm ins gerötete Gesicht. Er befreite sich von den Handschuhen, zerrte die Schapka vom Kopf und wischte sich das tauende Eis aus dem Bart.
In der hinteren Ecke des Saales, am Durchgang zur Marienberger Halle, entdeckte er einen Mitarbeiter von der Dienstleistung. Der beendete soeben die Bodenreinigung.
Faber nickte ihm zu, ging dann zur offenen stehenden Tür der Essenausgabe hin.
Schräg vor sich erblickte er die langgestreckte Ausgabereihe.
Laut vor sich hin pfeifend stapelte dort ein vollbärtiger Koch soeben Tabletts mit gefüllten Kompottschälchen übereinander.
Aus der Küche heraus schallte das Klappern von Töpfen und Pfannen. Ebenso laute Musik aus einem Kassettenrekorder.
»Mahlzeit, ist der Theo im Hause?«, rief Faber zu dem Koch hin.
Der blickte von seiner Arbeit auf und grinste ihn an. »Ich denke ja, Kollege Sicherheit!«, kam es zurück.
Faber nickte zum Dank. Er ging durch die offene Tür neben der Spülküche in einen langen Gang hinein, der nach hinten zu den Büros führte.
Unter seinen Stiefelschritten dröhnte hohl der Fußboden der miteinander verschraubten Raumzellen. Den hatte man hier mit dunkelgrünem Linoleum belegt.
Auf seinem Weg kam er an mehreren Vorbereitungsräumen und Kühlzellen vorbei. Mit einem lauten »Mahlzeit allerseits!« grüßte er zwei junge Frauen, die gerade Konservendosen auspackten.
Am Ende des Ganges verhielt er seinen Schritt vor der letzten Tür. »Leiter Versorgungsobjekt« stand auf einem Schildchen daneben geschrieben.
Er klopfte an und ohne ein »Herein« abzuwarten, trat er ein.
Der Chef der Versorgung, Theodor Kappner, hockte hinter einem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch. Der Enddreißiger zeigte ungeniert einen leichten Bauchansatz unter einem blauen Pullover. Er war jedoch groß und breitschultrig. Der Brillenträger mit kurz geschnittenem, brünetten Haar und sauber gestutzten Schnauzbart gab sich stets als bekennender Sachse. Im Augenblick allerdings schnaufte er nur vernehmlich.
Kappner gab beileibe keinen Choleriker ab. Doch soeben als Faber sein Büro betrat schmiss er wütend den Hörer auf das orangefarbene Telefon, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. »Scheiße! Verdammt noch mal! Sind wir denn hier im afrikanischen Busch?«, rief er erbost aus. »Ich muss meine Betriebsleitung in Kungur anrufen. Mann! Da drehst du zuerst die vierzehn Vorwahlnummern und dann noch die Rufnummer. Eine Verbindung? Nö! Jetzt geht erst mal das Warten los. Dabei berieseln sie dich die ganze Zeit im Hörer mit dieser blöden russischen Radiomusik. Und dann bricht doch wieder alles zusammen. Mensch! Die haben ’ne Raumstation, fliegen mit Raketen. Aber ein Telefonat über schlappe sechshundert Kilometer? Fehlanzeige!« Kappner winkte resigniert ab. Schließlich schaute er fragend zu Faber auf, wobei ein breites Grinsen sein volles Gesicht überzog.
Der Versorger kannte sein Gegenüber gut.
Dessen Bürotür in einer der Baracken auf der anderen Seite des Freizeitzentrums zierte auch ein Papptäfelchen. Darauf prangte die Aufschrift »Abteilungsleiter für Sicherheit und Arbeitsschutz des Generallieferanten«.
Doch er hörte auch auf die knappe Anrede »Genosse Faber oder Kollege Sicherheit«.
Kappner und er hatten im ersten schlimmen Winter von Vierundachtzig erfahren, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. So etwas verbindet.
Faber ließ sich nun, ohne zu fragen auf den einzigen noch freien Stuhl fallen. Er lockerte schnaufend den Knoten seines Schals, wobei er für einen Augenblick recht nachdenklich auf dessen dunkelblaues Wollgestrick starrte. »Mahlzeit Theo, bist du jetzt fertig mit deinem Weltschmerz?«, fragte er. Als Kappner verdrossen nickte und sich dabei eine Zigarette aus der Packung klopfen wollte, legte Faber rasch seine Hand darauf. »Lass’ das bitte mal. Ich brauche dich! Gleich! Hast du deinen Fotoapparat hier?«
Kappner runzelte mit gespielter Entrüstung die Stirn und verdrehte für einen Moment die Augen. Dann griente er. »Blöde Frage! Natürlich hab’ ich meine »Exa« immer am Mann!« Er deutete mit dem Daumen auf Kamera und Zubehör, das hinter ihm in einem Regal lag.
Faber wusste noch genau, dass sich Kappner bereits im Herbst Vierundachtzig, die »unbeschränkte Fotoerlaubnis« regelrecht erkämpft hatte. Das war wenige Wochen nach Beginn seiner Einsatzzeit im Ural gewesen.
Faber selbst, damals schon der zuständige Verantwortliche des Generallieferanten hatte sie ihm ausgestellt. Er stimmte dem Antrag auch sofort zu. Denn letzten Endes brachte es Kappners Arbeit mit sich, dass er viel unterwegs war.
Seine Versorger befanden sich immer allerorten im Einsatz. Auf allen Baustellen