Ost-wärts. Thomas Helm
machte er noch mehrere Nahaufnahmen vom Kopf des Toten. Insbesondere auch vom Schal um dessen Hals. Dann richtete er sich wieder auf. Fragend schaute er zu Faber hin.
Der lehnte in unveränderter Haltung am Fenster. Wobei er nervös am Rollkragen seines Pullovers zupfte. »Die ganze Brigade ist seit fünf Uhr zur Schicht draußen am Trakt. Warum er nicht mit raus gefahren ist, dass müssen wir noch klären«, sagte der Sicherheitschef plötzlich halblaut mit belegter Stimme. Er war jetzt etwas fahl im Gesicht. Rasch wendete er den Blick von der Leiche ab und starrte stattdessen zu Kappner hin. »Die Mieze von der Dienstleistung hat ihn vorhin gefunden, weil sie hier drin saubermachen wollte. Diese WUD ist heute laut Plan dran. Sie ist gleich zu ihrem Chef gerannt, dort heult und kotzt sie immer noch. Der Joschi hat mich sofort angerufen. Dann brachte er den Schlüssel für dieses Zimmer zu mir. Ich glaube aber, der dachte, dass ich ihm die Leiche zeige!«, erklärte Faber etwas umständlich.
Kappner vermeinte, ein leichtes Zittern in dessen Stimme zu hören.
Der Sicherheitschef hingegen schloss rasch das Fenster, da es inzwischen im Raum eisig kalt geworden war. Mit der Hand wischte er sich fahrig übers Gesicht. Einen Augenblick noch starrte er vor sich hin, um sich dann sichtlich zu straffen. »So. Du machst jetzt bitte ein paar Bilder von der gesamten Räumlichkeit, bevor die Sowjets kommen. Ich meine die Miliz und den Staatsanwalt«, sagte er, nunmehr betont beherrscht. »Ich hab’ vorhin den Zernick angerufen! Gehe du mal davon aus, dass der den KGB verständigt hat. Wird wohl bald voll werden hier drin meine ich!«
»Den Zernick? Der von der Stasi?«, fragte Kappner erstaunt.
»Ja. Das ist für solche Fälle so vorgesehen«, entgegnete Faber. Daraufhin ging er auf den Flur hinaus, um Kappner ein freies Sichtfeld zum Fotografieren zu bieten.
In diesem Moment traf der Baustellenarzt ein.
Doktor Martin Langner steckte den Kopf durch die Tür und warf einen flüchtigen Blick auf den Toten. »Theo! Warte mal mit deinen Fotos, bis ich mit der Totenschau durch bin!«, sagte er. Ungerührt kaute er seinen Kaugummi weiter.
Kappner trat daher auf den Flur hinaus, wo ihm Faber eine Zigarette anbot.
Sie rauchten schweigend während Doc. Langner wie er allgemein genannt wurde, eine oberflächliche Leichenschau durchführte.
Der Versorgungschef warf aus reiner Neugier einen raschen Blick in den Raum. Dabei sah er, dass der Arzt dem Toten soeben die Augen zudrückte, wobei er immer noch ungerührt seinen Gummi kaute.
Den lässt das wohl arschkalt, dachte er und schüttelte den Kopf.
Faber und Kappner warfen ihre Kippen in einen Blecheimer neben der Tür. Den hatte anscheinend die Mieze auf ihrer Flucht zurückgelassen.
Da kam der Doc aus dem Zimmer. »So. Fürs Erste bin ich hier fertig«, sagte er zu Faber. »Sieht ganz nach Selbstmord durch Erhängen aus. Das schreib’ ich auch auf den Totenschein! Kann höchstens drei Stunden her sein, der Junge ist ja noch warm. Aber er hatte vorher richtig einen genommen! Der stinkt wie ’ne Destille!« Der Doktor kicherte kopfschüttelnd vor sich hin und verstaute rasch sein Zeugs in der Arzttasche. Schwungvoll stülpte er die Schapka über die raspelkurzen, roten Haare auf seinem Aristokratenhaupt. Daraufhin legte er die Hand besänftigend auf Fabers Schulter. »Ich schreibe den Totenschein drüben im Medpunkt aus. Kannst ihn nach dem Mittagessen abholen lassen. Bringt also bitte den Jungen zu mir rüber. Ich mache auch die Einsargung. Alles andere organisiert ihr ja wohl? Sarg und Transport meine ich.«
Faber nickte zustimmend und Doc. Langner verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Kappner fotografierte noch, was sich seinem Auge anbot. Da trampelte bereits schon die sowjetische Exekutive herein.
Mit von der Kälte geröteten Gesichtern erschienen zwei Milizionäre in ihren kniehohen Filzstiefeln. Dann ein dicker, asthmatischer Zivilist, der sich als der Staatsanwalt zu erkennen gab.
Ein kleiner, dürrer Fotograf packte beflissen seine Ausrüstung aus.
Minuten später kamen noch zwei unauffällige Männer in langen Mänteln. Die waren wohl vom KGB.
Wie nicht anders zu erwarten war, verbreitete sich sofort eine Duftwolke aus Knoblauch und Machorka im Raum.
Faber sprach kurz mit den Ankömmlingen. Daraufhin wandte er sich leise an Kappner. »Die machen selber ihre Bilder. Du sollst aber von deinen Fotos für sie jeweils einen Abzug anfertigen. Die holen sie morgen bei mir ab. Also gut, wenn du fertig bist, rausch’ ab in dein Labor. Aber bitte bring’ mir anschließend auch die Negative mit!«
Kappner warf einen überraschten Blick zu Faber hin. Er packte wortlos seinen Kram zusammen, verließ die WUD.
Wieder draußen vor der Tür angelangt und weg vom Angesicht des Todes atmete er mehrmals tief ein und aus. Sein Atem verwehte, wie eine flatternde, weiße Fahne. Mit großer Erleichterung vermeinte er zu spüren, wie das unerwartet in ihm aufgestiegene Grauen von ihm wich. Für einen Augenblick blinzelte er in die immer noch tief stehende Sonne, um schließlich durch die Kälte zurück ins Versorgungsobjekt zu marschieren.
Im VO war das Mittagessen bereits im Gange. Die Tische im vorderen Speiseraum zeigten sich schon zur Hälfte besetzt. Doch zur Essenausgabe hin stand noch eine Reihe von hungrigen Werktätigen.
Elisabeth Kappner, die Küchenchefin, schwebte in korrekte Kochkleidung gewandet hinter dem Tresen hin und her. Aufmerksam überwachte sie den täglich gleichen Vorgang.
Das trockene Scheppern der Kunststoffteller, das Klappern des Aluminiumbestecks, das Stimmengewirr der Essenteilnehmer und das dumpfe Rauschen der Geschirrspülmaschine erfüllten die Räume. Alles zusammen bildete die übliche akustische Kulisse während der Mahlzeiten.
Kappner ging durch den Speiseraum zur Ausgabereihe hin, die sich vor der warmen Küche erstreckte. An einigen der besetzten Tische, an denen er vorbeikam, wünschte er einen »Guten Appetit«. Oder nickte nur einen Gruß.
An der Ausgabereihe angelangt beugte er sich hinüber zu seiner Frau. Ihren fragenden Blick beantwortete er mit einem Lächeln, wobei er ihr die Hand sanft auf den Unterarm legte. »Schatz, ich muss mich noch für ’n Stündchen ausklinken. Bei euch läuft alles? Auch für heute Abend?«
Die resolute Elisabeth Kappner, sieben Jahre jünger als ihr Mann aber ebenso vollschlank, nickte mit einem strahlenden Lächeln. Sie drückte die Hand ihres Chefs an ihren fülligen Busen. »Keine Panik, Boss! Alles läuft, wie ’n Länderspiel. Ich denke jedoch, dass du unseren Techniker noch mal abfragen solltest!« Lisa legte den Kopf etwas schräg und fixierte ihren Mann. »Aber sag mal, was war denn los? Die Mädels aus der Ökonomie haben gemeint, dass du vor ’ner Stunde mit dem Sicherheitschef und deiner Kamera abgerauscht bist?«
Kappner strich seiner Frau besänftigend über die Wange. »Das erzähle ich dir später, mein Schatz. Wie weit seid ihr denn mit der Vorbereitung vom Faschingsbuffet?«
Elisabeth winkte beschwichtigend ab, schaute jedoch prüfend zur Ausgabereihe hinüber. Dort gab es mit einem Wachmann soeben eine kleine Diskussion wegen einer Nachschlagportion.
Dabei stupste sie mit einem Finger ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Mit einer energischen Bewegung rückte sie zudem das weiße Schiffchen auf ihrem kurz geschnittenen, dunkelblonden Haaren zurecht.
Kappner wurde es warm ums Herz. Die ihm lieb gewordene Geste seiner Frau brachte ihn besonders nach dem soeben erlebten Entsetzlichen endgültig ins gewohnte Umfeld zurück. Es waren genau diese unverwechselbaren Eigenheiten, die seine Liebe zu Elisabeth stets aufs Neue entfachten.
»Das Buffet ist fast fertig. Den Rest lasse ich von der Spätschicht machen«, holte Lisa ihren Mann aus seiner Gedankenwelt zurück. »Wir bauen um halb fünf alles auf, bevor die Ersten zum Abendbrot kommen!« Solcherart brachte sie als Küchenleiterin ihren Chef auf den aktuellen Stand.
Kappner hob daraufhin grüßend die Hand und verließ den Speisesaal. Nach einem kurzen Kontrollblick in die Geschirrspüle marschierte er durch den langen Gang in Richtung der Büros.