Ost-wärts. Thomas Helm
Versorgungsleitung im vorderen der beiden Speiseräume beisammen. Sie benutzten einen Tisch in der hinteren Ecke, weil sich ihnen von da aus der ungehinderte Blick auf den Übergang zur Marienberger Halle bot. Von dort her dröhnten schon laute Discoklänge.
Entgegen dem allgemeinen Verbot, das während der Essenszeiten galt, erlaubten sie sich in der Nische zu rauchen. Zudem konnten sie sich dort unterhalten, ohne schreien zu müssen.
Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen »Braustolz Pils« und zwei mit »CioCioSan«.
Diesen fiesen Wermut verabscheuten die Kappners zutiefst.
Völlig im Gegensatz zu den beiden Mädels aus der Ökonomie und dem pickligen Wareneinkäufer. Die fanden das süße Gesöff rundum toll, weil es vortreffliche Laune versprach. Ein Grund mehr, wofür sie gern ihre Rubelchen verplemperten.
Aber lange würden die jungen Leute sicherlich nicht hier am Tisch hocken bleiben. Dessen war sich Theo Kappner bewusst.
Inzwischen war es nach zwanzig Uhr geworden und der laute, hämmernde Rhythmus aus der Halle lockte das jüngere Volk eindringlich zum Tanz.
Bis jetzt hielten es die drei Mitarbeiter vermutlich nur aus Neugier bei den Kappners aus. Anscheinend hofften sie, von ihrem Chef ein paar Details über den Selbstmord zu erfahren. Der schreckliche Vorgang geisterte zwar durch aller Munde, aber keiner wusste etwas Genaues.
Bevor sich Kappner zu seinen Leuten an den Tisch gesetzt hatte, war er noch eine Runde durch die Marienberger Halle gegangen. Diese schien sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt zu haben.
Interessiert ließ er den Blick über die Besucher der Faschingsfeier wandern. Am Ende des Rundgangs wollte er zudem seine Mitarbeiter im Ausschank kontrollieren. Denn solches tat er stets auch bei ähnlichen Anlässen.
Den Saal hatten die beiden Kulturniks im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten bereits am Vorabend geschmückt. Alles wirkte faschingsgemäß und ziemlich farbenfroh.
Kappner wusste, dass die bunten Scheinwerfer, mit denen der Saal ausgeleuchtet wurde, aus dem Theater der Stadt Prokowski stammten. Das für die Ausleihe notwendige »Sternburg Pilsener«, zwei Eberswalder Salami und eine mächtige Seite geräucherten Speck spendierte er aus den Warenbeständen der Versorgung.
Ein nicht unerheblicher Teil der Faschingsgäste zeigte sich, zum allgemeinen Amüsement, auf die eine oder andere Weise phantasievoll kostümiert.
Der Einmarsch des Elferrats ging wohl soeben, heftig beklatscht, dem Ende entgegen. Zahlreiche Narren hielten das heutige Ereignis mit ihren Fotoapparaten fest.
Der Kulturnik zerrte die Regler hoch und fuhr sofort und mit voller Pulle einen aktuellen Stimmungshit vom Diskopult ab. Die wuchtigen Boxen auf dem hölzernen Podium dröhnten, die Bässe ließen sogar den Betonboden erbeben.
Augenblicklich schleppten die Kumpels fast alle in der Halle anwesenden weiblichen Faschingsgäste auf die Tanzfläche.
Dort fanden sich wie bei jeder Lagerdisko auch viele der Jungs spontan zum Männertanz ein. Verklärten Blickes schwebten oder stampften sie solo im Rhythmus der Musik mit Zigarette und Bierflasche in den Händen über den grau gestrichenen Betonfußboden.
Die Tanzfläche hatte sich zwar rasch gefüllt, die Anzahl der weiblichen Tanzpartner reichte jedoch bei Weitem nicht aus.
Kappner machte plötzlich eine erstaunliche Feststellung.
Anscheinend hatte sich heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Kumpels gewagt, ihre in der Stadt erworbenen russischen Freundinnen ins Wohnlager mitzubringen.
Denn solch eine Vielzahl an Mädels aus dem »Territorium« auf der Tanzfläche gab es hier noch nie!
Gut so dachte Kappner schmunzelnd. Langsam wird’s ja! Wenn es hilft, den dramatischen Männerüberschuss bei den Lagerdiskotheken wenigstens etwas auszugleichen? Dann ist das doch in Ordnung.
Er hob den Blick, während er sich eine Zigarette anbrannte.
Obwohl die meisten der Anwesenden rauchten, schwebte unter der Hallendecke aus Wellasbest nur eine dünne Wolke von Tabakqualm. Dank der improvisierten Saalentlüftung, an der auch er maßgeblich Anteil hatte, war das möglich.
Der Versorger schlängelte sich zwischen den Narren hindurch, bis nach vorn zum »Morschen Brett«.
Der Ausschank befand sich gleich neben dem Diskopodium. Wo man rückseitig durch drei kleine Luken in der Wand die Linsen der beiden Kinomaschinen sehen konnte.
Der Getränkeverkauf erfolgte aus einem etwas breiteren Fenster heraus, das sich in der Wand daneben befand.
Kappner musterte die lange Reihe der Kumpels, die geduldig am Ausschank anstanden. Die beiden Mädels hinter der Theke waren vollauf beschäftigt, um den Bedarf an Bier, Wein und auch Hochprozentigem zu befriedigen.
Von der Seite her beugte sich der Versorgungschef ins Verkaufsfenster hinein. »Soll ich euch jemanden zum Gläserspülen herschicken?«, fragte er Lilly. Eine dralle Rostockerin im blauen Berufskittel.
»Nee, nee. Lass das Mal, Chef!«, entgegnete sie und drehte ihm für einen Moment das hübsche aber hektisch gerötete Gesicht zu. »Wir kommen hier schon alleine klar!«
Kappner zuckte mit den Schultern und schaute nochmals auf die Schlange der Wartenden. Kurz vorm Verkaufsfenster entdeckte er plötzlich Rolf Kretzschinski, seinen Techniker. Der stand mit den anderen Durstigen geduldig in der Reihe.
Wegen der dröhnenden Musik diskutierte der Leipziger lautstark mit einem auch bereits angetrunkenen Kumpel. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Kretzschinski selbst »vorgeglüht« hatte bot seine rote Gesichtsfarbe. Ebenso, wie die Angewohnheit sich ständig mit den gespreizten Fingern durch das ohnehin zerzauste Haar zu fahren.
Kappner ging nochmals die Reihen der voll besetzten Tische ab. In der hintersten Ecke des Saales entdeckte er schließlich die Truppe von RIV. Die Jungs schienen gleich nach der Schicht hierhergekommen zu sein. Seitdem hockten sie immer noch in ihren verdreckten Lederklamotten eng beisammen. Und statt Faschingsstimmung sah man bei ihnen nur trübsinnige Gesichter.
Dort lachte keiner! Still in sich gekehrt vernichteten sie den Inhalt der Flaschen, die sich auf ihrem Tisch drängten.
Was für ein Scheiß-Drama, dachte Kappner bei ihrem Anblick. Das ist doch bestimmt ein unglaublich harter Schlag. Wenn einer aus der eigenen Truppe quasi von heute auf morgen einfach so wegstirbt.
Gnade uns Marx oder Gott, dass solches bei uns nie passiert!
Am Ende seines Kontrollgangs kehrte er in den vorderen Speiseraum zurück und setzte sich zu seinen Leuten.
Auch Ralf Kretzschinski tauchte bald dort auf. Mit einem breiten Grinsen stellte er vorsichtig ein kleines Tablett mit gefüllten Schnapsgläsern auf den Tisch. Er hatte es tatsächlich geschafft, das ovale Alublech vom Ausschank in der Halle bis hierher verlustfrei zu balancieren. Tief aufatmend ließ er sich auf einen freien Stuhl fallen. Er brannte sich eine Zigarette an und fixierte Kappner mit seinen schwarzen Knopfaugen. Die wirkten durch die dicken, grün getönten Gläser seiner Brille unnatürlich vergrößert.
Kretzschinski, ein untersetzter stets etwas schmuddelig wirkender und immer unrasierter Mittdreißiger hatte einen leichten Silberblick. Dazu eine narbige Gesichtshaut und tief-schwarzes, strubbeliges Haupthaar.
Sein oft unmäßiger Alkoholkonsum manifestierte sich in den Gesichtszügen. Und auch im morgendlich schwachen Zittern seiner Hände.
Kappners Meinung zu seinem »Fachgebietsleiter für Technik« fiel zumeist recht zwiespältig aus. Dessen progressive Sprüche und ständige Sauferei waren das eine gute Arbeit jedoch das andere Profil des Leipzigers. Doch auch, nachdem man Kretzschinski im vergangenen Herbst zum Sekretär der »Abteilungs-Parteiorganisation« der Versorger gewählt hatte, blieb er beim Alkoholkonsum konstant.
Kappner blieb skeptisch. »Denkst du, dass es ein guter Vorschlag war, den Kretzschinski zum Gruppensekretär zu wählen?« Der Parteisekretär der Baustelle, Wollny, reagierte