Ost-wärts. Thomas Helm

Ost-wärts - Thomas Helm


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nächsten Linienbus. Der auf den östlichsten Standort der Drushba-Trasse fuhr. Und der war etwa dreihundert Kilometer entfernt!

      Kopfschüttelnd schob Kappner die unschönen Erinnerungen beiseite. Er atmete tief durch und fand sich zurück in die lärmende Realität.

      Dabei konnte er seine Frau hinter der Reihe der Rückkehrer hindurch gut beobachten. Er sah auch, wie Lisa dem Schichtkoch der Nachtschicht eine kurze aber scharfe Anweisung gab. Der hatte bisher mit verschränkten Armen lässig hinter der Ausgabereihe gestanden. Daraufhin riss dieser Schlacks einen der großen Kühlschränke auf. Er entnahm daraus sofort mehrere dick belegte Platten mit Aufschnitt, um sie auf die polierte Speisenausgabe zu stellen.

      Kopfschütteln kam Lisa aus der Küche zurück zum Tisch gelaufen. Laut seufzend ließ sie sich neben ihren Mann auf den Stuhl fallen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Wobei sie ihm von unten her einen verzweifelt wirkenden Blick zuwarf. »Ich frage mich, wozu einige unserer Leute ihr Hirn haben. Schau ihn dir nur an!«, rief sie aus und deutete zur Ausgabe hin. »Ein hoch bezahlter Schichtleiter. Jung, dynamisch, aber nichts auf der Waffel! Abgesehen von Weibern und vom Alkohol!«

      Kappner legte seiner Frau den Arm um die Schultern und strich ihr beruhigend über die Wange. »Bleib’ ruhig Schatz! Es sind doch noch junge Leute. Und – erinnerst du dich, wie wir uns in diesem Alter aufgeführt haben? Aber – ich geb’ dir trotzdem Recht!«

      Lisa zuckte etwas ratlos mit den Schultern. »Alles nur Windbeutel, diese – Entwicklungskader!« Doch unvermittelt hellten sich ihre Züge auf. Neugierig schaute sie den Ankömmlingen entgegen, die direkt auf ihren Tisch zusteuerten.

      Voran schob sich Elke Dörrbrand, die blondbezopfte FDJ-Sekretärin der Baustelle. Die mit beiden Händen einen stramm gefüllten Teller über ihrem sichtlich gewölbten Bauch balancierte.

      Zwei Schritte hinter ihr ging der Mann, mit dem sie vorhin von draußen hereinkam. Auch er trug eine voll bestückte Dreiteilerplatte und das Besteck. Aber alles entspannt in der linken Hand.

      »Hallo, können wir uns zu euch setzen?«, fragte Elke in ihrem unverkennbaren, sächsischen Dialekt.

      »Hockt euch hin, Ankömmlinge!«, antwortete Kappner launig in der gleichen Tonlage. Dabei schaute er interessiert auf den ihm bisher unbekannten Mann.

      Der ihm aus der Nähe betrachtet doch nicht mehr so taufrisch erschien, wie er vom Weiten ausschaute.

      Die Dörrbrand stellte den Teller auf dem Tisch ab und ließ sich stöhnend auf einen Stuhl fallen. Dabei hielt sie sich ihren dicken Bauch mit beiden Händen. Daraufhin griente sie, deutete mit ihrer kleinen Hand auf ihren Begleiter. »Darf ich vorstellen? Das ist der Jugendfreund Helmuth Steincke, der mich in Kürze von den Lasten meines schweren Amtes erlösen wird«. Sie wies auf Theo und Lisa. »Helmuth! Das sind die Kappners. Der Leiter von der Versorgung und die Küchenleiterin.«

      Kappner streckte Steincke über den Tisch hinweg seine Rechte entgegen. Er blickte offen in dessen tiefschwarzen Augen und warf daraufhin grinsend einen raschen Blick zur Dörrbrand hin. »Bevor ich mich über deine schweren Lasten auslasse, hoffe ich, dass dein Nachfolger nicht auch noch schwanger werden kann!«, sagte er.

      Elke Dörrbrand holte tief Luft und ihre geflochtenen Zöpfchen wippten heftig auf und ab. »So, Helmuth! Da durftest du gleich einmal hören, wie unser Versorgungschef so tickt! Aber dafür ist seine Frau viel, viel netter!«, moserte sie. Nachdem alle am Tisch gelacht hatten, stürzte sich die Dörrbrand auf ihren vollen Teller.

      Kappner schaute sich indessen den zugereisten FDJnik genauer an. Der hatte bisher geschwiegen, aß nunmehr unbeirrt und mit sichtlichem Appetit.

      Der Mann schien nach seinem ersten Eindruck mittelgroß und das schwarze, halblange Haar trug er ordentlich links gescheitelt. Unter der leicht gebogenen Nase bot er einen dichten, gepflegten Schnauzbart dar. Die sanft schräg stehenden, kohlschwarzen Augen und die erhöhten Wangenknochen spendierten seinen Gesichtszügen eine fast exotische Note. Körperlich wirkte er durchtrainiert.

      An dem Burschen scheint so eine Art – kasachischer Steppenreiter – verloren gegangen zu sein, dachte Kappner erheitert. Er räusperte sich verhalten. »Na dann. Guten Appetit!«

      Der Neue schaute kurz auf und hob die Brauen. Er kaute jedoch unbeirrt weiter.

      Kappner griff nach seinem Bier. »Nur zu deiner Information, Helmuth. Die Lisa und ich sind von Anfang an hier auf dem Standort. Damals wurde das Wohnlager noch gebaut und alle hausten unten im einzigen Hotel der Stadt.« Er trank von seinem Bier.

      In der Halle nebenan brandete erneut lauter Beifall auf, ein dröhnender Tusch schallte herüber.

      Elke Dörrbrand wollte anscheinend etwas sagen. Sie wartete jedoch ab, bis der Lärm verebbt war. Schließlich schob sie ihren Teller ein Stück beiseite und schluckte heftig. Wobei sie Kappner mit hellblauen Augen durch ihre zeitlose Hornbrille fixierte. »Helmuth!«, sagte sie und warf Steincke einen raschen Blick zu. »Der Theo will damit sagen, dass er hier von Anfang an den Obermacker bei der Versorgung gibt! Der immer alles im Alleingang macht und keinen Vortänzer braucht. Zumindest bei den wichtigen Sachen. Und dass er das Versorgungsobjekt, völlig unsozialistisch, zumeist wie ’n Familienbetrieb führt. So, dass nur damit du es gleich weißt!«

      Der neue FDJ–Sekretär legte das Besteck penibel nebeneinander auf den Teller. »Finde ich in Ordnung. Solange alles klappt!«

      Kappner nickte dem Neuen zu und reichte ihm eine geöffnete Flasche Bier über den Tisch. »Guter Standpunkt! Doch wie wäre es, wenn du was von dir erzählen würdest?«

      Steincke dankte für das Bier mit einem Kopfnicken. Er stellte den geleerten Teller beiseite, brannte sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck aus der Flasche.

      In kurzen Sätzen, ständig von lauten Passagen der Diskothek aus dem Saal unterbrochen, berichtete er, wie es ihn in den Ural verschlagen hatte. Und das mit einer tonalen Färbung, die seine Herkunft dicht bei Magdeburg positionierte.

      Dabei entpuppte er sich entgegen Kappners Annahme keinesfalls als Neuling an der Trasse. Fast zwei Jahre lang hatte er bereits auf einem Standort in der Ukraine erfolgreich gewirkt. So zumindest sagte er es. Jetzt jedoch wäre er vorerst nur hier, um die schwangere Elke abzulösen. »Dabei ist es ungewiss, wie lange ich hier in Prokowski bleiben werde«, fügte er mit einem raschen Blick auf die Dörrbrand hinzu. »Da man im Zentralrat eventuell noch Höheres mit mir vorhat!«

      Lisa hob bei diesen Worten die Brauen und schaute kurz zu ihrem Mann hin. Denn der Neue hatte doch tatsächlich dieses »Höheres« extra betont. Aber ohne es zu erklären.

      Doch die Kappners kannten schon derartige Situationen.

      Gewisse Leute tauchten auf einem Standort auf und blieben eine Weile. Aber nur, um früher oder später auf eine andere Baustelle umgesetzt zu werden. So, wie man es eben für notwendig erachtete. Entweder, um sie loszuwerden oder damit sie woanders irgendwelche Probleme behoben.

      »Dann ist es ja ein großes Glück für die Jugendfreunde hier am Standort! Ich meine, dass sie einen neuen FDJ–Sekretär bekommen der kein unerfahrener Anfänger ist!«, sagte der Versorgungschef ein bisschen sarkastisch und prostete seinem Gegenüber mit der Flasche zu.

      Die Dörrbrand griff nach der Hand ihres Nachfolgers. »Hoffentlich ist es dir bekannt, mein lieber Helmuth, wie groß unserer Grundorganisation ist? Da la auch noch die Jungs und Mädels vom Wohnungsbau und die vom LT angegliedert sind?« Ihre Stimme klang etwas besorgt.

      Steincke nickte zustimmend. »Ja! Fast tausend Mitglieder würden sich hier am Standort befinden. So zumindest sagte man es mir im Zentralrat in Berlin.« Nachdem er nochmals aus der Flasche getrunken hatte, winkte er lapidar ab. »Aber in der Ukraine hatte ich eine ähnliche Größenordnung unter mir. Darum sehe ich das auch ganz entspannt!«

      Kappner vermochte ein spöttisches Grinsen nicht zu unterdrücken. »Hat man dich in deinem »Zentralrat« auch über die beschissenen winterlichen Wegeverhältnisse informiert, die hier der Alltag sind?«, forschte er den Neuankömmling aus. »Ich meine auch über die langen Monate mit nur wenigen Stunden Tageslicht


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