Der Feuerfluch von Eggersdorf. Mario Worm

Der Feuerfluch von Eggersdorf - Mario Worm


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die man ihm reichte und vor allem die himmlische Ruhe und Geborgenheit seiner Hütte. So hätte es weitergehen können, wenn es da nicht diese Nacht gegeben hätte...

      Es ist kurz vor Zwei, als das Fenster des Haupthauses aufgerissen wird und die Stimme des Herrchens erschallt: „Schnauze, Töle!“ Albert von Röschel überhörte die vertraute Stimme geflissentlich. Schließlich wusste er nur zu gut, wie Haus, Hof und vor allem seine Hütte zu beschützen waren. Eigentlich hatte er sich schon zur Ruhe begeben, den Rumpf in der Hütte vergraben, die kleine Dackelschnauze über die leicht gekrümmten Pfoten gelegt. Ganz bestimmt hatte er von einem riesigen Knochen geträumt. Oder doch von dem „Kanibalenkarnickel“? Alles ist relativ. Süßlicher Duft des gegenüberliegenden Rapsfeldes umwehte die empfindliche Hundenase. Doch plötzlich zwickt ihn ein beißender Geruch. Er schlägt die Augen auf. Das „Kanibalenkarnickel“! Egal. Auf alle Fälle war Gefahr angesagt, ein bedrohliches Szenario für den Vierbeiner. Von Röschel schlägt an, unüberhörbar. Wild rennt er hin und her. Erneut brüllt es von oben: „Albeeerrrt! Aus!“ Die Haltung des Ausrufenden wandelt sich, als seine Augen das Flammenmeer jenseits des Rapsfeldes erblicken. „Ilse, schnell! Ruf die Feuerwehr! Da drüben brennt es mal wieder, aber dieses Mal richtig!“

      Um null Uhr dreiundzwanzig ging der Notruf unter der 112 ein. Zwei Minuten später gab die Leitstelle das Signal an die freiwillige Feuerwehr in Eggersdorf weiter.

      Hans Joachim Herrmann war es gewohnt, sehr früh aufzustehen, weshalb er sich auch dementsprechend frühzeitig ins Bett begab. Sein Körper war an diesen Rhythmus gewöhnt. Noch vor wenigen Jahren fuhr Hermann als Fernfahrer durch die Gegend, bewegte seinen tonnenschweren Truck über die Autobahnen. Er kannte aller Herren Länder. Da man peinlichst genau auf die Ruhezeiten achten musste, um nicht bei der nächsten Verkehrskontrolle deftig draufzuzahlen, hatte er sich stets rechtzeitig einen Rastplatz gesucht, um sein Abendbrot zu genießen. Und um sich schnell zur Ruhe zu begeben. Bestraft war derjenige, der zu spät auf die „Zielgerade der Begierde“ einbog. Meist war man dann zur Weiterfahrt gezwungen. Die Elefantenrennen, bei denen ein „Brummi“ den anderen in manchmal waghalsigen Manövern überholte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Herrmann hatte den Kampf um den besten Platz meistens gewonnen und war somit in der Lage, im Morgengrauen wieder seinen Motor zu starten. Die Macht der Gewohnheit ließ ihn also regelmäßig gegen fünf Uhr morgens erwachen, auch jetzt, wo er das Rentenalter erreicht hatte.

      Dass er heute Nacht noch um diese Zeit im Badezimmer agierte, war einem Fernsehabend geschuldet, besser gesagt einer späten Dokumentation über Jeanne d’Arc. Hans Joachim interessiert dabei weniger das tragische Schicksal der so genannten „Jungfrau vor Orleans“, die vermutlich am 06. Januar 1412 in Domrémy, einem verschlafenen Ort in Lothringen, das Licht der Welt erblickte. Er wusste zwar, dass jene Johanna von Orleans, die während des hundertjährigen Krieges den Truppen des Thronerben zu einem Sieg über die Engländer und Burgunder verhalf und nach ihrer Gefangennahme vor ein Inquisitionsgericht gestellt wurde. Der oberste „Rechtsprecher“ Pierre Cauchon verurteilte sie wegen wiederholter Ketzerei zum Tod durch den Scheiterhaufen. Die Vollstreckung des Urteils am erst neunzehnjährigen Mädchen fand am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen statt. Es waren andere Bilder, die ihm vor Augen kamen. Bilder dieser einen Stadt in Frankreich, die direkt an der Küste der Normandie liegt. In seiner Fernfahrerzeit hatte Herrmann gefühlte hunderte Male seinen Scania über die knapp 1100 Kilometer lange Strecke von Berlin hierher gesteuert. Hier in Rouen endeten die „Elefantenrennen“. Hier bekam man zusätzliche Ruhezeiten, welche im Wesentlichen den französischen Disponenten zu verdanken waren, die der deutschen Hektik nicht folgten und sich beharrlich weigerten, einen LKW nach 16.00 Uhr zu be- oder entladen. Dafür, quasi als kleine Entschädigung, wies man den Truckern einen Parkplatz mit Blick auf den Jachthafen zu. Welch ein malerischer Anblick, mit mindestens zwölf Stunden Freizeit. Was gab es Schöneres, als nach einem ausgiebigen Bummel durch die Stadt seinen Liegestuhl aus dem Fahrzeug zu holen, mit einem Baguette und einer Flasche französischen Bier in der Hand, den Sonnenuntergang über den Unterlauf der Seine zu genießen…? Ja, Herrmann liebte diese Tour und jetzt, wo er seine Rente bezog, trauerte er ihr erst recht hinterher.

      „Just in time“ lautete damals die Devise. Und die erlaubte keinen zusätzlichen Halt. So war er zum Beispiel regelmäßig an dem Schloss Versailles vorbeigefahren, das nahe Paris als Schönheitskönigin glänzte, ohne jemals auch nur einen Fuß wenigstens in König Ludwigs Schlosspark zu setzen. Gern hätte er auch mal die Umgebung von Rouen gesehen oder weitere Landstriche der Normandie „erobert“, doch auch dazu bot sich eben nie die Gelegenheit. Rentner haben niemals Zeit! Aber eines Tages, so nahm er sich vor, würde er sich ein Wohnmobil mieten und mit seiner Frau und den zwei Kindern alle diese Punkte abfahren. Dieses Vorhaben hatte er aus unterschiedlichsten Gründen Jahr für Jahr verschoben. Also suchte er Trost in dieser Fernsehdokumentation, die aber nicht wirklich neue Bilder brachte.

      Victor Hugo hatte Rouen als die Stadt der hundert Kirchtürme bezeichnet. Hans Joachim kannte die meisten davon, die Kathedrale Saint-Ouen oder den Temple St-Éloi. Er kannte die kleinen, mittelalterlich wirkenden Gassen mit ihren Querhäusern, den Turm der Jeanne d‘ Arc, den Rest der Burg, die im Jahre 1200 erbaut wurde, das Pest-Beinhaus. Der Place du Vieux-Marché, von dem die Doku zu berichten wusste, dass hier an diesem Punkt der Scheiterhaufen stand, war ihm vertraut. Wirklich neue Bilder bekam er nicht zu Gesicht. Was hatte er erwartet? Schließlich war es eine Dokumentation über die „Jungfrau“ und nicht über die Weiten der Normandie!

      Enttäuscht schaltet er den Fernseher ab, schlurft, von der Müdigkeit geplagt, ins Bad und ist gerade im Begriff sich zu entkleiden, als plötzlich der Pieper anfängt, lauthals zu pfeifen. Allen Kameraden der Feuerwehr signalisiert er, dass ein Einsatz anliegt. Herrmann wirft einen flüchtigen Blick auf das blinkende Display. Mal wieder das alte LPG Gelände, sicherlich erneut ein Haufen Zeitungspapier, das von herumtreibenden Gören angezündet wurde. Hans Joachim drückt sich hastig durch die Informationen und glaubt seinen Augen nicht zu trauen. GROSSBRAND steht da, nicht zu übersehen! Sofort rennt er zu seinem Auto, springt hinein und rast davon.

      Keine Sekunde zu spät, was die Sirene bestätigt, die mit ohrenbetäubendem Lärm durch den Eggersdorfer Nachthimmel dringt. Genau der gleiche, dreimal auf- und abschwellende Heulton, der vor zirka einem dreiviertel Jahrhundert das Ende eines Bombenangriffs signalisierte und indirekt dazu aufforderte, aus den Kellergewölben und Bunkern ans Tageslicht zurück zu klettern. Entwarnung! Kaum einer der heutigen Generation kennt diesen Zusammenhang und erst recht interessierte es keinen der Kameraden der Freiwilligen von Eggersdorf. Heute bedeute das Signal Gefahr, welche man jetzt eben, in diesem Augenblick, bekämpfen musste. Hans Joachim erreicht die Feuerwache gleichzeitig mit seinem Sohn Pascal, der ebenfalls Mitglied der Feuerwehr ist. „Morgen, Vater!“, raunt er. „Morgen, Passi.“ Für mehr Konversation bleibt keine Zeit. Drinnen herrscht schon Geschäftstüchtigkeit. Die gelebte Routine beginnt. Ein Wort, das die Kameraden überhaupt nicht gerne hören. Jeder Einsatz hat seine eigenen Herausforderungen, bedarf andere Reaktionen. Wenn man jene Formulierung unbedingt positiv deuten möchte, dann sollte in diesem Falle „Routine“ mit geordneten, zigmal geprobten, einstudierten und exerzierten Handlungen gleichgesetzt werden. Mitten in dem geordneten Gewusel gibt der Wehrführer seine Anweisungen, deutet mit Handbewegungen auf einzelne Kameraden, teilt ein. Wenige Minuten später ist der Löschzug einsatzfähig. Noch schnell „die Oma“ aufgesetzt, so wird im internen Sprachgebrauch die „Sturmhaube“ genannt, und schon verteilen sich die dreiundzwanzig Anwesenden auf drei Wagen. Die Tore öffnen sich. Nach kurzer Zeit erreichen sie, vom Blaulicht und Sondersignal begleitet, die Brandstelle. „Mist, zu spät. Das war es. Nur noch kontrolliertes Abbrennen möglich“, konstatiert Ralf, als er sieht, wie weit der Brand fortgeschritten ist. Trotzdem werden Schläuche und andere Geräte zum Einsatz kommen. Zumindest ein Übergreifen des Feuers muss verhindert werden. Jeder kennt seine Aufgabe, jeder Handgriff ist einstudiert. „Wasser marsch!“ Systematisch grenzt ein Strahl den linken Feuerherd ab, während der zweite das Rapsfeld in Schach hält. Der Wehrführer, der in diesem Fall auch als Einsatzleiter fungiert, rennt von Posten zu Posten, überprüft, gibt restliche Instruktionen. Pascal Herrmann und sein Kamerad Karsten Schubert sind damit beschäftigt den Brand am hinteren Gebäudeteil unter Kontrolle zu halten, den Druckschlauch auf die geöffnete Hintertür haltend.

      Plötzlich deutet Schubi aufgeregt in das


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