Im Schatten des Deiches. Fee-Christine Aks
gespannt, das im abgeschwächten Wind leise flatterte.
Mit so etwas wie Kreide waren verwischte weiße Markierungen auf den Weg gemalt, der auf der Deichseite mit einer wetterfesten Abdeckplane bedeckt war. Grobes graues Klebeband hielt sie an den Pflastersteinen fest.
„Guten Morgen“, wurde der Mann plötzlich von hinten angesprochen. „Bitte gehen Sie weiter und halten Sie ausreichend Sicherheitsabstand. Hier muss der Deich befestigt werden.“
Der Mann nickte Juki Akkermann, der in seiner rotblauen Feuerwehrjacke mit einem dicken Sandsack über der Schulter herangekommen war, gleichmütig zu und ging wie befohlen weiter. Direkt vor der besagten Stelle sah er drei weitere Männer aus dem Gebüsch auftauchen: Dachdeckermeister Steven Byl mitsamt seinem Lehrling Jaan Osterhuis und Polizeihauptmeister Claas Berends, der mit einem Kopfschütteln leise „unerklärlich“ murmelte.
Sie alle nickten dem Mann freundlich zu und sahen dann zu, wie Juki Akkermann den Sandsack am Streusalzbehälter ablud. Der Mann ging langsam weiter und bemerkte erstaunt, dass auf dem für gewöhnlich verlassenen Weg an diesem Sonntagmorgen viel Betrieb war.
Jukis Vater Claas kam mit einer Sackkarre heran, auf der sich weitere Sandsäcke stapelten. Ihm folgte Polizeimeister Raake, der sich leise mit seiner Schwester, der Chefredakteurin der Borkumer Zeitung, unterhielt.
Weiter unten auf dem Weg kamen dem Mann noch fünf weitere Personen entgegen: Pastor Teese von der reformierten Kirche, der krummbeinige Gus Terling mit seinem Friesennerz und der für ihn typischen abgetragenen Kapitänsmütze, der alte Polizeihauptmeister a.D. Edwin Berends, der Junge von Metzgermeister Henry Bakker und der rüstige Jannes Moog, der vor Jahrzehnten in der Signalstation an der Süderstraße seinen Dienst verrichtet hatte.
Der Mann erwiderte im Vorbeigehen ihren Gruß mit stummem Kopfnicken und ging in unauffälligem Tempo den Weg hinunter bis zur Deichstraße. Dort traf er auf den Jungen Niklas Berends, der soeben die Bäckerei verließ, in der seine Mutter Gitta, die Frau des Polizeihauptmeisters, Tochter von Claas und Enkelin vom alten Werner Akkermann, hinter dem Verkaufstresen stand und eifrig mit ihren Kunden schnackte.
Eigentlich wollte der Mann an ‚Haus Brotzeit‘ vorbeigehen und nebenan die Tür zur Werkstatt aufschließen, um im Anbau unter seinem sportlichen Firmenschild die neu eingetroffene Ware auszupacken; aber dann siegte doch seine Neugier.
Kurz entschlossen betrat der Mann die Bäckerei, stellte sich in die kurze Warteschlange und hörte mit gespitzten Ohren, aber nach außen hin uninteressierter Miene dem Gespräch zu, das Gitta Berends mit der rundlichen Frau Raake am Anfang der Schlange führte, während die restlichen drei Frauen mit Einkaufskorb am Arm aufmerksam zuhörten.
„Sie hat nicht leiden müssen“, sagte Frau Raake gerade. „Gerrit meint, sie war sofort tot.“
„Hat Janny sie untersucht?“ fragte eine ältere Frau aus der Schlange, die der Mann als Jannes Moogs Frau Tilde erkannte. „Hat er was herausgefunden, wie es passieren konnte? Margit ist doch bei Sturm nie auf die Promenade raus gegangen, sondern hat ihren Spaziergang nur durch den Kurpark gemacht. Wie soll sie sich da so schlimm verletzt haben?“
„Dazu hat Gerrit nichts gesagt“, antwortete Frau Raake, während sie mit einem Kopfnicken das geschnittene Lotsenbrot von Gitta Berends entgegen nahm, die augenblicklich ergänzte: „Es muss irgendwo etwas Schweres heruntergefallen sein, denke ich. Claas hat da sowas angedeutet. Vielleicht vom Kletterpark.“
„Bestimmt nicht!“ widersprach eine jüngere Frau vehement, die der Mann auf den zweiten Blick als Anni Freese von der Kurverwaltung erkannte. „Da haben Juki, Steven und Jaan Osterhuis erst am Dienstag nach dem Rechten gesehen. Da ist alles sturmfest.“
„Hätte mich auch sehr gewundert“, sagte Frau Raake mit einem Lächeln in Anni Freeses Richtung, „so gewissenhaft wie dein Juki arbeitet…“
„Nun, was ich nicht verstehe, Heimke“, wandte sich Gitta Berends an die Tierärztin Duur, die hinter Frau Raake in der Schlange stand, „wie konnte der Hund so schlimm verletzt werden?“
„Das ist eine gute Frage“, antwortete die Mittvierzigerin nachdenklich, während Frau Raake ihren Einkauf bezahlte und einen Schritt zur Seite trat. „Ein halbes Lotsen, bitte. Und einen Stuten ohne alles. Es sieht so aus, als ob Pelle mit etwas Hartem geschlagen wurde. Der Schädelknochen ist angebrochen und er hat eine furchtbare Fleischwunde hinterm linken Ohr gehabt.“
„Der arme Dackel!“ kam es im Chor von den Frauen, was der Mann tonlos mit formte, um nicht durch seine unbeteiligte Distanz aufzufallen.
„Danke, Gitta, das wäre alles“, sagte die Tierärztin, legte Geld auf die Theke und trat zur Seite, um Anni Freese Platz zu machen.
Während diese ihre Bestellung aufgab und Tilde Moog „wer macht denn nur sowas?“ murmelte, schob sich der Mann langsam vorwärts und bemühte sich um einen betroffenen, mitleidenden Gesichtsausdruck. Gerade als Anni Freese fertig war und sich zur Tür wandte, sagte Gitta Berends klar und deutlich:
„Also, wenn ihr mich fragt, dann war das Ganze kein Unfall, egal, was Gesche geschrieben hat.“
„Du meinst doch nicht etwa…“, keuchte Tilde Moog entsetzt, „dass jemand das Margit mit Absicht…“
Ein kollektives Luftanhalten war zu vernehmen, dem der Mann sich nach einer Schrecksekunde anschloss. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Andererseits hatte er von den Frauen genau das erfahren, was er wissen wollte: was über das Ende von Margit Geedes gemutmaßt wurde und in welche Richtung die Polizei ermittelte.
„Das ist doch die logische Konsequenz, oder nicht?“
Die helle Stimme von Anni Freese jagte dem Mann einen kalten Schauer über den Rücken. Er zuckte unmerklich zusammen, als sie ihre nächste Frage direkt an ihn richtete: „Oder was meinen Sie?“
Er zwang sich zu einem Nicken, denn nichts anderes war nun angebracht. Er musste dazu gehören, auch wenn er es sonst nicht unbedingt tat. Alle hier Anwesenden außer ihm waren auf der Insel geboren, was sie zu echten Insulanern machte. Er war nur ein Zugezogener, eine Landratte, auch wenn er beinah sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Man kannte ihn und respektierte ihn, so wie es die Höflichkeit gebot. Aber ob sie ihn mochten?
„Na, also, bitte“, fuhr Anni Freese fort, „da haben Sie’s. Von wegen ‚Opfer des Sturmes‘, dass ich nicht lache!“
Mit vorwurfsvollem Blick richteten sich aller Augen auf Frau Raake, die nur stumm den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte. Gitta Berends war es schließlich, die das Wechselgeld an Tilde Moog herausgab und in versöhnlichem Tonfall sagte: „Was der Gerrit sich nur dabei gedacht hat, uns solch ein Garn zu spinnen. Will uns wohl nicht aufregen, jetzt so kurz vorm Fest.“
Sie nickte Frau Raake freundlich aber mit einer gewissen Strenge zu, sodass dem Mann sofort klar war, dass die Bäckerin bei allernächster Gelegenheit das Neueste wissen wollte, was die Mutter des Polizeimeisters zu berichten haben würde. Dann wandte sie sich schließlich ihm zu und nahm seine Bestellung entgegen, während die Frauen die Bäckerei verließen.
*****
Moritz hat es irgendwie schon geahnt. Kaum haben sie die kleine Bäckerfiliale an der Süderstraße/Ecke Süderreihe passiert, da dringt ein freudiger Schrei an ihre Ohren, der eigentlich nur ein Name ist.
„Sebastian!“
Linda springt von der hölzernen Bank auf, die windgeschützt unter einem Vordach der Gaststätte mit Whiskeybar steht und die Süderstraße bis hinunter zur Süderreihe im Blick hat.
„Ich werde noch wahnsinnig“,