Der gelbe Bus. Elias Davidsson
Dashcam-Video „untermauert“. Das Video soll die Nachrichtenagentur Reuters von einem anonymen Taxifahrer erhalten haben, der zufällig am Ort gewesen war. Das Video, von der Dashcam seines Fahrzeugs aufgezeichnet, soll den Lkw bei einer rasenden Anfahrt aus der Hardenbergstraße zeigen.{42} Das Video wurde weitgehend von Leitmedien als Beweis verbreitet, dass der Lkw in den Weihnachtsmarkt hineingerast sei. Mit bestem Willen kann der Zuschauer des Videos nicht eindeutig feststellen, ob der Lkw tatsächlich in den Weihnachtsmarkt oder weiter auf die Budapester Straße fährt. Darüber hinaus besteht ein Zweifel über die Echtheit dieses Videos: Seine Quelle ist unbekannt; das Video ist von sehr schlechter Qualität; es fehlt ein Teil der Aufzeichnung; Indizien deuten auf eine Manipulation hin. Da der Lkw auf keinen Fall mit der gefilmten Geschwindigkeit in den Weihnachtsmarkt hineinfahren konnte, gibt es für das Dashcam-Video zwei Erklärungsmöglichkeiten: (1) das Video ist eine vollkommene Fälschung; (2) der erste Teil des Videos könnte den Lkw zeigen, als er noch eine Rundfahrt um den Weihnachtsmarkt machte. Solche Rundfahrten wurden bereits erwähnt. In diesem Fall müssten die wegrennenden Personen, die auf diesem Abschnitt des Videos erscheinen, im Nachhinein eingefügt worden sein.
Am 4. Januar 2017 gab es eine neue Fassung zur Ankunft des Lkw. Die Generalbundesanwaltschaft erklärte:
„Anhand der GPS-Daten des Lkw konnte die Route vom Friedrich-Krause-Ufer zum Anschlagsort nachverfolgt werden. Sie führte über die Budapester Straße, die Hardenbergstraße und den Ernst-Reuter-Platz zurück über die Hardenbergstraße zum Breitscheidplatz.“{43}
Später – im Juli 2017 – behauptete ein Staatsanwalt wieder, dass der Lkw aus der Kantstraße ankam.{44} Dieses Hin und Her deutet darauf hin, dass es den Behörden schwer fällt, die Fakten mit der gewünschten Politik zu vereinbaren. Das erklärt auch, warum die Daten aus dem GPS des Lkw – die diese Fragen längst geklärt hätten – nicht veröffentlicht werden.
(4) Die Fahrgeschwindigkeit des Lkw
Die ersten Daten aus dem GPS des Lkw wurden von der Generalbundesanwaltschaft (GBA) in ihrer Erklärung vom 4. Januar 2017 veröffentlicht: „Anhand der GPS-Daten des Lkw konnte die Route vom Friedrich-Krause-Ufer zum Anschlagsort nachverfolgt werden.“ Aus den GPS-Daten kann auch die jeweilige Geschwindigkeit des Lkw errechnet werden. Das wurde mir in einem Brief des Bundeskriminalamts vom 13. Mai 2017 bestätigt. Der Grund für die Verheimlichung dieser Daten wird dem Leser im Laufe dieses Abschnittes einleuchten.
Laut Polizeisprecher Winfried Wenzel soll der Lastwagen sich „zwischen den Ständen mit hoher Geschwindigkeit bewegt“ haben.{45} Ungenannte Experten sprachen von 50 bis 60 km/h.{46} Bei der Bild-Zeitung hieß es, der Lkw wäre „[m]it hoher Geschwindigkeit [...] etwa 60 bis 70 Stundenkilometer“ auf den Weihnachtsmarkt gerast.{47} Zwei ausländische Zeugen, Emma Rushton{48} und Mike Fox{49}, behaupteten, der Lkw wäre mit genau 40 mph (65 km/h) durch das Gelände gefahren. Sie sagten, sie hätten keine Anzeichen einer Verlangsamung beobachtet. Eine andere Zeugin, Lana Sefovac, behauptete, dass der Lkw sogar mit 80 km/h gefahren sei.{50} Eine ähnliche Äußerung machte ein anderer Zeuge, Lucas Vandenberg, in einem privaten Gespräch mit mir. Keiner der in diesem Buch angeführten Zeugen erwähnte, eine Verlangsamung des Lkw wahrgenommen zu haben. Ein 40-Tonner braucht laut Bremstabellen mindestens 60 Meter, um aus 65 km/h zum vollkommenen Stillstand zu gelangen. Wäre der Lkw mit mehr als 60 km/h ins Gelände hineingefahren, wäre seine Verlangsamung für jeden Zeugen wahrnehmbar, denn er kam nach etwa 50 Metern zum Stehen. Nur bei einer langsamen Fahrt wäre seine Verlangsamung kaum wahrnehmbar gewesen. Aber in diesem Fall hätte kein Erlebniszeuge behaupten können, der Lkw wäre gerast.
Die Frage bezüglich der Geschwindigkeit des Lkw spielt eine zentrale Rolle bei der Aufklärung des Ereignisses, weil nur ein rasender Lkw die hohe Zahl der Toten und Verletzten erklären kann. Aus diesen Gründen hätte man erwartet, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender professionelle Lastwagenfahrer zu einer Gesprächsrunde eingeladen hätten, um zu klären, ob ein 40-Tonner unter den gegebenen Umständen mit mehr als 60 km/h die erforderlichen Manöver am Breitscheidplatz zuwege bringen konnte. Den Sendern fiel diese Idee anscheinend nicht ein, oder die Verantwortlichen bangten um ihre Karriere.
Und dann kam der 5. April 2017.
An diesem Tag publizierte die Wochenzeitung Die Zeit einen mehr als 6500 Wörter langen Artikel über Anis Amri und das Berliner Ereignis mit der Überschrift „Ein Anschlag ist zu erwarten.”{51} Nicht weniger als fünf Journalisten waren an der Recherche zu diesem Artikel beteiligt. Der Artikel enthielt Informationen, die die offizielle Darstellung des Berliner Ereignisses hätten erschüttern müssen. Sie sind im folgenden Abschnitt, im hinteren Teil des Beitrags, enthalten:
„Laut den GPS-Daten des Wagens fährt Amri den Laster durch den Tiergartentunnel, unter dem Regierungsviertel hindurch, am Potsdamer Platz entlang, vorbei an der Neuen Nationalgalerie. Er fährt nicht schneller als 50 km/h, die meiste Zeit langsamer. Dann erreicht er den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Er fährt daran vorbei, die Hardenbergstraße entlang, um den Kreisverkehr am Ernst- Reuter-Platz und dann wieder zurück. Um kurz nach 20 Uhr hält [der Lkw] an einer roten Ampel. Als die Ampel auf Grün springt, fährt Amri an. Es ist 20.02 Uhr. Mit rund 15 km/h schiebt sich der Lkw auf den Weihnachtsmarkt. [...]
Amri schafft es nicht, den Wagen stärker zu beschleunigen. Laut einem Ermittler wickelt sich die Lichterkette eines Weihnachtsbaums um die Achse und blockiert das Rad. Der Lkw wird langsamer, zieht nach links durch das Spalier der Buden und kommt auf der Budapester Straße zum Stehen.“
Dieser Abschnitt wurde in keiner Weise hervorgehoben. Explosiv waren diese Informationen nur für Leser, die den ganzen Artikel lasen und sich der Brisanz dieser Informationen bewusst waren. Die Redakteure waren sich über die Brisanz des Abschnitts jedenfalls im Klaren, denn sie schrieben:
„15 km/h sind nicht besonders schnell, doch an diesem Abend auf dem überfüllten Markt genug, um Menschen zu überrollen und Buden niederzureißen. Die Opfer haben keine Chance.“
Ob der Markt an diesem Abend tatsächlich „überfüllt“ war, ist zu bezweifeln. Dafür gibt es keinen Beleg.
Die neuen Informationen stellten die öffentliche These unmittelbar in Frage, dass der Lkw neun Personen tödlich getroffen und bis zu 30 Personen schwer verletzt hatte. In Untersuchungen über die Folgen eines Verkehrsunfalls wurde nachgewiesen, dass der Aufprall eines Fahrzeugs auf einen Passanten bei 15 km/h selten dessen Tod verursacht. Die hohe Zahl der Berliner Opfer, die von den Behörden bereits am Abend des 19. Dezember angekündigt wurde, lässt sich nicht mit einer langsamen Fahrgeschwindigkeit des Lkw vereinbaren.
Die Zeit wiederholte diese brisanten Informationen nicht. Redakteure der anderen Leitmedien erwähnten diese Veröffentlichung mit keinem Wort. Die Redaktion der Zeit publizierte ihrerseits keinen Rückzieher und gab damit zu verstehen, dass sie die Daten nicht in Frage stelle.
Am 17. April 2017 schrieb ich Mohamed Amjahid und Yassin Musharbash, zwei der Autoren des besagten Berichts, und stellte ihnen folgende Fragen:
1. Haben Sie eine Erklärung, warum keines der Medien die neuen Infos übernommen hat?
2. Wieso sprachen viele Zeugen von einer „irren” Fahrt des Lkw (bis zu 80 km/h), wenn er bloß mit 15-20 km/h durch den Weihnachtsmarkt fuhr? Haben Sie dafür eine Erklärung?
3. Erhielt das Autorenkollektiv des Beitrages Zugang zu den originalen GPS-Daten? Wenn ja, welche Parameter enthielten diese Daten? Wie oft wurden die Daten gespeichert (Zeitraster)?
4. Von welcher Behörde erhielt Die Zeit die GPS-Daten?
Eine Antwort erhielt ich nicht.
Die Frage stellt sich nun, wie man die in Die Zeit publizierten Daten einschätzen soll. Gibt es hinreichende Gründe für die Verlässlichkeit der neuen Daten über die Fahrgeschwindigkeit des Lkw oder gibt es überzeugende Gründe,