PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
keinen, der – sagen wir mal – etwas aus dem Rahmen fiel, dessen Gefühle etwas zu sehr, wie du es nennst, in Aufruhr gerieten?«
Sie dachte nach. »Doch, aus dem Rahmen fiel schon einer. Es war nämlich ein richtig süßer dabei, ein hübscher Bengel. Benjamin hieß er, glaub' ich, ja, und Benni wurde er genannt.«
»Und weiter?«
»Peemöller, Benjamin Peemöller«, kam die Antwort überraschend schnell. »Konnte aus dem Nichts die herbsten Sprüche klopfen. Der erste von ihren Freunden, den sogar ich mochte. Aber Regina hatte auf diesem Gebiet einfach kein Glück. Ihr war so viel in die Wiege gelegt: ihr Aussehen, ihr wacher Geist, ihre Aufgeschlossenheit, ihr heiter-überschwängliches Wesen, ihre Empfindsamkeit ... Aber mit dem Glück ist das so eine Sache, wie gesagt, es ist eine launische Diva. Jedenfalls passten die beiden so gut zusammen wie 'n Elch und 'ne Wüstenspringmaus. Sie verband nichts. Sie war rasch im Rausch der Gefühle, er spröde und vorsichtig. Sie war warmherzig, er kühl. Sie war impulsiv, er überlegt. Sie plauderte endlos, er warf in den Sprechpausen einen geistreichen Satz ein. Glaubst du daran, dass Gegensätze sich anziehen, Tim?«
»Bei Magneten schon.«
»Bei Menschen.«
»Menschen zieht alles an, wenn nur ihre Einbildung groß genug ist.«
»Mit andern Worten, du hältst das für ausgemachten Blödsinn, und vermutlich hast du recht damit. Als Benni irgendwann nicht mehr kam und von ihm auch nicht mehr die Rede war, wollte ich von ihr wissen, wieso. ›Der war doch so nett‹, sagte ich. ›Ach, das verstehst du nicht‹, meinte sie nur geknickt. ›Wir hatten einfach nicht dieselben Träume!‹«
»Würdest du sagen, sie hat den Tod deines Vaters besser verkraftet als du?«
»Auf jeden Fall. Du musst wissen, Emotionen waren bei Regina wie Vulkanausbrüche. Von extremer Heftigkeit war folglich auch ihre Trauer über Papas Tod.« Es rührte Tim und bereitete ihm eine kleine Freude, dass sie in seiner Gegenwart von Mama und Papa sprach, als wären es auch für ihn enge Verwandte. »Sie wurde von Weinkrämpfen nur so geschüttelt, drei Wochen lang. Und als Mama am Grab vor Schmerz zusammenbrach, fehlte nicht viel und sie wäre ebenfalls unter Tränen in die Knie gegangen. Geheult haben wir ja alle wie die Schlosshunde, aber bei ihr ging es dann irgendwann wieder. Siehst du, ein Vulkanausbruch ist kurz und heftig, und wenn er vorbei ist, dann ist erst mal Ruhe. Dann kann Schritt für Schritt wieder zur Tagesordnung übergegangen werden. So war es bei meiner Schwester. Bei mir war der Schmerz eher wie eine schleichende Vergiftung, die noch Generationen später erbliche Schäden verursacht. Selbst als ich dir von Papas Unfall erzählte, kamen mir ja noch die Tränen. Naja, und Mama –«
»Dann bist du also der ruhigere Typ von euch beiden.«
»Ja, ich galt immer als still und aufmerksam, aufmerksam im Sinne von freundlich«, erläuterte sie mit dem Anflug eines Lächelns, der perfekten Veranschaulichung ihrer Worte.
»Nie neidisch auf sie gewesen?«, fragte er ein wenig provozierend, aber ohne eine Spur von Argwohn ahnen zu lassen. Trotzdem nahm Charlotte die Bemerkung persönlich. Ihr Lächeln erstarb förmlich auf ihren Lippen, und ihre Antwort zischte durch die Luft wie ein Armbrustpfeil: »Auf Regina? Wir verstanden uns gut. Sagte ich das nicht?«
»Man kann ja trotzdem mal ein bisschen neidisch sein«, hakte Tim nach und setzte seine Sonntagsnachmittagsunschuldsmiene auf, um allen Wind wieder aus den Segeln zu nehmen, den er unbeabsichtigt entfacht hatte.
»Vielleicht«, sagte sie kurz angebunden.
»Was hast du eigentlich nach dem Abitur gemacht?«, wechselte Tim das Thema. Er suchte nach einem Weg, ihr zu signalisieren, dass er keine bösartigen Absichten hegte.
»Woher willst du wissen, dass ich Abitur habe?«
»Hab' ich mir so gedacht.«
»Dann kannst du dir den Rest bestimmt auch denken.«
»Denken und hellsehen sind bekanntlich zwei verschiedene Dinge.«
»Ich bin Juristin.«
»Na, wer hätte das gedacht!«, staunte Tim.
»Ich arbeite für eine Versicherung. Aber nur halbtags. Wegen Mama. Genau genommen lebe ich gleich doppelt von Versicherungen.«
»Wieso?«
»Weil eine andere Versicherung damals bei Papas Tod ganz schön blechen musste. Lebensversicherung, Schmerzensgeld, da ist ganz schön was zusammengekommen. Papas Lebensversicherung muss uns so lange eine Rente zahlen, bis die ganze Familie ausgerottet ist. Aber wenn das Glück uns weiter so lacht wie bisher, kann das ja nicht mehr ewig dauern.« Wieder dieser bittere Sarkasmus, der einem die Kehle zuschnüren konnte. »Ich hab' mal 'ne Sendung im Fernsehen gesehen«, fuhr Charlotte fort, »zum Thema Pechforschung. Ehrlich, in England gibt es so genannte Pechforscher. Irgend so'n verrückter Wissenschaftler hat die These aufgestellt, Pech sei keine Frage von Zufall, sondern von Geburt oder nenn' es meinetwegen Karma. Jedenfalls soll es bestimmte Personen geben, denen das Pech buchstäblich an den Fersen klebt. Zum Beweis hat man das Leben einer Frau untersucht, deren Familie innerhalb von ein oder zwei Jahren komplett ausgelöscht wurde, der schon zwei Häuser abgebrannt sind und bei der kein Mensch im Auto mitfahren möchte wegen der vielen Unfälle, deren Opfer sie ohne jede Mitschuld immer wieder wird. Ich finde das plausibel. Ich glaube daran, dass das Leben ungerecht ist. Und ich glaube definitiv nicht an die so genannte ausgleichende Gerechtigkeit.«
»Doch, die gibt es. Einmal wurde Bayern München am letzten Spieltag deutscher Meister, nachdem Werder Bremen die ganze Saison über Tabellenführer gewesen war. Die ganze Stadt blies Trübsal. Man hatte für den letzten Spieltag sogar schon Wimpel, Trikots und Schals herstellen lassen, auf die der Meistertitel gedruckt war – alles für die Katz'. Aber ein paar Jahre später war es genau umgekehrt. Da wurde Bayern nach souveräner Führung ebenfalls kurz vor Saisonende noch abgefangen und Bremen –«
»Fußball!«, beschwerte sich Charlotte spöttisch. »Männer!«
Tim begrub das Thema Fußball und fuhr fort: »Vielleicht trifft es am ehesten deine Theorie von der launischen Diva. Jenseits von Eden gibt es eben keine Garantie auf Glück.«
»Ja«, stimmte Charlotte zu, »das steht fest. Das Paradies ist hier nicht. Das ist weit, weit weg. Es krampft sich mir jedes Mal das Herz zusammen, wenn ich Mama in diesem klapprigen, alten Schaukelstuhl vorm Fenster sitzen und mit erloschenen Augen in die Ferne starren seh'. Manchmal sitzt sie stundenlang da, wippt hin und her und spricht kein einziges Wort.« Einen Moment lang schwiegen beide. Dann neigte sie sich zu ihm hinüber und bat mit einem gut gezielten Blick in seine Augen: »Darf ich die Stelle sehen, wo du sie gefunden hast, ich meine, ihren Arm?«
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