PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
er hinter einem grauen Vorhang im Hintergrund des Ladens. Tim hörte das Geräusch von auf- und zugeschobenen Schubladen. Der Juwelier brummte etwas vor sich hin. Dann kehrte er stolz mit einem glänzenden Stück Schmuck wieder, das Tims Fund so täuschend ähnlich war, dass er sich mit einem raschen Blick auf die Theke vergewisserte, ob es sich nicht um dasselbe handelte, nur perfekt aufpoliert. Doch »sein« Anhänger lag unberührt da, wo ihn der Juwelier wenige Minuten zuvor abgelegt hatte. »Wie ein Ei dem andern, nicht wahr?«, freute sich der Juwelier, als er sein Schmuckstück neben das von Tim gelegt hatte. Dozierend fuhr er fort: »Nur die Gravur fehlt, die wird ja individuell angefertigt. Aber genau die hat mich auf die Spur gebracht. Sehen Sie diesen Schnörkel am R? Es sieht fast aus wie ein B, nicht wahr?«
»Ja?«
»Diese Spirale am Anfang ist nicht gewöhnlich. Sehen Sie, die macht fast zwei Umdrehungen, völlig unüblich. Das ist die Handschrift von Eisenkrug.«
»Ist es möglich, sich zu erinnern, wann diese Gravur hier angefertigt wurde?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich führe das Geschäft hier erst drei Jahre«, erwiderte er.
»Sagen Sie nicht, Ihr Vorgänger ist tot!«, rief Tim in einem Anflug von Panik.
»Keine Bange. Der alte Eisenkrug ist viel zu reich, um schon totzubleiben. Er hat sich irgendwo zwischen hier und Eckernförde in einer stattlichen Villa zur Ruhe gesetzt, um gemeinsam mit seiner Frau das Rentnerdasein zu genießen – wohlverdient nach einem langen, arbeitsreichen Geschäftsleben wie dem seinen. Aber wie das Leben so spielt: Alles war wunderbar hergerichtet oder hingerichtet – wie sagt man? – na, jedenfalls renoviert. Eine wahre Idylle, in der es richtig Spaß bringen musste, alt zu werden. Und dann, vier Monate nach dem Einzug, stirbt ihm die Frau weg – Krebs! –, und die Lebensfreude ist dahin. Da fragt man sich doch: Wozu das alles? Wofür müht man sich nun sein ganzes Leben mit Geldverdienen ab, wenn man's nachher nicht mal anständig genießen kann?«
»Es gibt eine Menge Misstöne auf der Klaviatur des Lebens«, sagte Tim leise. »Können Sie mir nicht seinen Namen und vielleicht seine Anschrift sagen?«
»Du meine Güte, wozu ist denn das bloß so wichtig? Nach all den Jahren kann man doch an dem Teil nichts mehr reklamieren.«
»Es handelt sich um eine wichtige, persönliche Angelegenheit«, erklärte Tim.
»So, so, ein wichtige, persönliche Angelegenheit. Na, von mir aus. Wissen Sie, der alte Eisenkrug ist nicht etwa mit mir verwandt. Ich hab' eigentlich gar nichts mit ihm zu tun. Ich hab' lediglich sein Geschäft gekauft ... und den Namen beibehalten. Wegen der Ironie. Sie verstehen: Juwelier – Eisenkrug. Lustig, oder?« Der Juwelier lächelte Tim an. Doch dem war nicht zum Lachen zumute. »Außerdem darf man seine Kunden nicht überfordern. Es gibt nichts Konservativeres als Kunden, vor allem hier oben. Wenn Sie Ihr Kind halb tot prügeln, dann stört das keinen, aber ändern Sie nie was, was schon immer so war! Wenn Sie aus einem altmodischen, provinziellen Lädchen ein neues, professionell geführtes Geschäft machen wollen, dann geben Sie den Laden lieber gleich auf und bringen Ihr Guthaben auf die Bank, solange Sie noch welches haben. Hier gleich um die Ecke gab's früher mal die Drogerie Lindemann, geführt seit Ende des Krieges von einem alten Herrn gleichen Namens. Vernünftige Arzneien gab's da nicht, aber dafür Dauerlutscher, kleine, bunte, steinharte Zuckerkügelchen für einen Pfennig das Stück, bei uns als Kindern der Renner. Weit und breit war sonst für einen Pfennig nämlich nirgendwo was zu kriegen. Der alte Herr starb, und mit ihm erlosch die Drogerie Lindemann. Sie wurde von Edwin Pingel aufgekauft, dem Inhaber eines gut gehenden Lebensmittelgeschäfts in diesem Stadtteil, jemand mit Expansionsabsichten. Pingel steckte jede Menge Geld in den Laden und renovierte wie der Teufel: alter Fußboden raus, neuer Parkettboden rein, alte Regale raus, neue rein und so weiter. Am Ende strahlte der Laden wie aus dem Ei gepellt und war nicht wiederzuerkennen. Natürlich hieß er auch nicht mehr Lindemann, sondern Pingel, Drogerie Pingel. Der Warenbestand war erheblich aufgestockt worden. Was es allerdings nicht mehr gab, waren Opa Lindemanns Dauerlutscher für einen Pfennig, wie einem alle Kinder enttäuscht mitteilten. Ich weiß nicht, vielleicht hatte der alte Lindemann die selber hergestellt, was Edwin Pingel natürlich nicht konnte. Er war ja kein richtiger Drogist, nur ein Kaufmann. Vielleicht war das sein Problem. Jedenfalls, ohne Dauerlutscher schien der Laden nicht mehr zu laufen. Und ein Jahr später konnte Pingel seine Drogerie dichtmachen. Sie hätten fragen können, wen sie wollten: Jedem im Viertel tat es leid, dass es nun keine Drogerie mehr hier gab. Aber dort eingekauft hatte keiner. Sie können ja gleich mal daran vorbeigehen. Heute befindet sich ein gut gehendes Blumengeschäft darin, immer noch auf Edwin Pingels schickem, neuem Parkettboden. Jetzt wissen Sie, warum ich Stücke im Sortiment habe, die ich eigentlich unmöglich finde, und warum ich dem alten Eisenkrug dankbar dafür sein muss, dass ich das Geschäft unter seinem Namen weiterführen durfte. Eisenkrug – was für ein Name für ein Juweliergeschäft! Das klingt nach billigem Ramsch, den keiner braucht. Mein Name ist Oldmann. Passt der nicht viel besser zu kostbaren Juwelen? Aber der Kunde ist König. Und er liebt es so. – Wie waren wir darauf gekommen?«
»Ihr Vorgänger, wo –?«
»Ach so, ja. Alfred Eisenkrug. Der Ort, wo er seine Villa stehen hat, warten Sie mal, das war ... in ... in Gettorf, glaube ich. Aber fragen Sie mich bloß nicht nach der Straße!«
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An einem Sonntagnachmittag stand Tim bei sonnigem Spätherbstwetter zum zweiten Mal vor dem Haus der Wilhelmsens. Er bog andächtig in die Zufahrt zum weißen Haus ein und lenkte seinen alten Ford geradewegs auf den Mittelpunkt des Anwesens zu, die Haustür, die sich schon aus der Ferne groß und dunkelbraun von dem weißen Putz abhob. Der Vorhof des Hauses war kreisförmig mit Kieselsteinen ausgelegt, auf denen Tim, während sie unter ihm knirschten, dahergerollt und schließlich zum Stillstand kam. Er parkte direkt vor ein paar kahlen Rosensträuchern an der trüben Hausfassade, wo gleich neben ihm schon ein roter Golf stand, zweite Generation. Dann stieg er drei überaus breite Stufen empor, las neugierig das Namensschild auf dem Briefkasten und erlebte eine böse Überraschung. Der Name lautete nicht Wilhelmsen, sondern Manstein. Umgezogen, geisterte es durch seinen Kopf. Er zögerte und entschloss sich dann, trotzdem zu klingeln. Es öffnete ihm eine junge, schwarzhaarige Frau in Jeans und Pullover, eine formvollendete Schönheit, deren große, weit auseinander liegende und etwas traurige Augen ihn neugierig und skeptisch anblickten und deren silberne Ohrringe eine leichte Erschütterung erkennen ließen. Tim musste unwillkürlich an die Schauspielerin Svenja Pages denken, die er mehrfach in Derrick gesehen hatte und eine Zeit lang für die zweitschönste Frau der Welt gehalten hatte, übertroffen nur noch von Winona Ryder.
»Guten Tag, äh«, brachte er unsicher und ohne jegliche Anstalten näherzutreten hervor, »mein Name ist Tim Schlüter. Sie kennen mich nicht, aber –« Er bemerkte, dass sie befremdet ihre feinen, schwarzen Augenbrauen senkte, was ihren Blick noch skeptischer und Tim noch unsicherer machte. Hinzu kam eine gehörige Portion dieser eigenartigen Fahrigkeit und Nervosität, mit der wohl jeder Erwachsene bei der ersten Begegnung mit einem Menschen des anderen Geschlechts von äußerst anziehendem Äußeren schon Bekanntschaft gemacht hat, eine nur bedingt angenehme Bekanntschaft. Sie hatte definitiv Ähnlichkeit mit Svenja Pages, vor allem im Profil. Vielleicht war Svenja Pages nur ein Künstlername und die Schauspielerin lebte unter ihrem echten Namen zurückgezogen in einem einsamen Landhaus in Schleswig-Holstein. »Sind Sie Frau Pa...nstein, Frau Manstein? Oder Fräulein ...? Ich bin nämlich auf der Suche nach einer gewissen –«
»Wilhelmsen«, fiel sie ihm ins Wort.
»Äh, ja, genau. Wie –?«
»Ich bin Charlotte Wilhelmsen. Manstein ist der Mädchenname meiner Mutter. Sie hat ihn wieder angenommen aus Gründen, die für Sie wohl kaum von Belang sind.«
»Vielleicht doch. Ich bin hier, weil ich möglicherweise etwas weiß über Regina Wilhelmsen, Ihre Schwester, wie ich annehme?«, stieß er nun rasch hervor, womit die Rollen vertauscht waren. Jetzt war er der Wissende und sie die Verunsicherte. Bei seinen letzten Worten war sie merklich zusammengezuckt. Sie kniff nachdenklich ihre blass roten Lippen