PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma

PUZZLE - Mord am Kanal - Martin Berthold Heinrich Diebma


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ersten Verschleiß­erscheinungen wurden erst mal Flicken bemüht und jede Möglichkeit zur Instandsetzung ausgeschöpft – wie gesagt, er hing am Alten und hätte am liebsten alles erhalten –, ehe endlich eine Neuanschaffung ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. »Für das Geld kann man lieber Hundefutter kaufen.« Das war zweifelsohne auch Canos Ansicht. Und wen hätte Tim sonst nach seiner Meinung fragen sollen? Tim Schlüter war ein rationeller Mensch, im komplettesten Sinn des Wortes. Moden, Trends und ungeschriebene Gesetze kümmerten ihn nicht. Selbst die der Höflichkeit beachtete er nicht immer. Er glaubte, kurz gesagt, nicht an Relatives. Tim Schlüter befand sich in einer beneidens­werten Freiheit. So fasste er es jedenfalls auf. Und diese Freiheit erfüllte sein Inneres an manchen Tagen mit ausgesprochen guter Laune.

      In eben dieser Laune betrat Tim schließlich durch die Haus­tür an der Frontseite sei­nes Anwesens, die in ihrer ganzen Breite zur Straße hin zeigte, sein Heim. Von der Straße aus betrachtet, wirkte das Haus jünger, als es der Wahrheit entsprach – war der Wohntrakt des Hofes doch vor fünf Jahren komplett erneuert worden. Die Fassa­de sah aus wie die eines zu lang geratenen Einfamilienhauses mit den für diese Ge­gend Deutschlands so typischen dunkelroten Backsteinen. Die Haustür war aus mas­siver Eiche; gleichmäßig traten große Quadrate ein paar Zentimeter aus ihr hervor, an den Rändern leicht verziert; vor ihr ein einfacher Tritt aus Beton und Fliesen und ein etwa zehn Meter langer Gehweg, der zur Pforte im eisernen Gartenzaun führte, der das Grundstück von der Straße abschloss. Dieser Gehweg aus demselben alten Kopfsteinpflaster wie der Hof durchschnitt eine große, grüne Fläche Wildwuchs: Tims Garten. Er mähte den Rasen nur zwei bis drei Mal im Jahr mit einer Sense. Und so glich er mehr einer Wiese als dem, was man gemeinhin unter einem Rasen versteht. Aber Cano liebte ihn so. Und wen sonst ging der Rasen etwas an? An allen Rändern des Gartens und des Hofes wuchsen außerdem noch jede Menge wilder Sträucher. Mächtige Nadelbäume sowie ein paar Obstbäume umrahmten das ganze Grundstück. Zum Glück ließen die hohen Lärchen hinter dem Haus genügend Lücken, um den Blick auf die hinter ihnen liegenden endlosen Äcker zu erlauben, auf das leicht gewellte weite Land, das zwar zum Teil auch noch zu Tims Erbschaft gehörte, aber sinnvollerweise an Landwirte aus der Nachbarschaft verpachtet war und erst bei dem Fichtengehölz am Horizont endete. Aus Tims Schlafzim­merfenster im Ober­geschoss hatte man einen fabelhaften Ausblick auf dieses Land, das vor allem im Morgengrauen wunderschön anzuschauen war, wenn wie jetzt im Oktober über die riesigen, halbtransparenten, über die Felder gespannten Laken von herbstlichen Dunstschwaden langsam die Sonne ihr strahlendes Angesicht erhob und alles in ein gleißendes Orangerot tauchte. Dann hielt es Tim auch an freien Tagen manchmal nicht länger im Bett, von Cano ganz zu schweigen, und gemeinsam stürzten sie aus dem Haus, über den Hof, unter Fichten- oder Lärchen­zweigen hindurch auf die feuchten Wiesen oder tiefschwarzen, vom Pflug aufgerissenen Äcker, in deren aufgeweichtem Boden sie tiefe Spuren hinterließen, dem Sonnenlicht im Osten entgegen. Wie konnte man in einem solchen Augenblick nicht glücklich sein?

      Doch andere, finsterere und weniger heitere Gedanken be­schäftigten Tim, der mit Cano in seinem großen Wohnzim­mer Platz genommen hatte, dessen einziger nen­nenswerter Reichtum eine schier unermessliche Anzahl von Büchern in endlosen Re­galen war. Wenn Freyas Hypothese, die ja im Prinzip auch die seine war, stimmte, dann ging es um einen brutalen, mit unerbittlicher Konsequenz und menschenver­achtender Grausamkeit erfolgreich vertuschten Mord. Bei diesem Gedanken musste Tim in seinem tiefen Ledersessel erst mal tief durchatmen. Nach einer Weile stand er auf, um den goldenen Anhänger noch einmal genau zu betrachten, den er auf seinem Schreibtisch verwahrte. Damit musste doch was anzufangen sein. Irgend­jemand musste dieses Ding kennen. Was bedeutete »Regina«? War es einfach nur »Königin« auf Lateinisch? Vielleicht nur ein Firmenname? Oder war Regina die Leiche? Oder lebte Regina noch und konnte einen Hinweis auf den Toten oder den Täter oder bei­des geben? Auf jeden Fall war dieses goldene Schmuck­stück eine wertvolle Spur, vielleicht die wichtigste in die­sem Fall. Tim war entschlossen, sie mit äußerster Verbis­senheit zu verfolgen.

      Gegen acht Uhr abends öffnete Tim eine Dose Ravioli und gab Cano knapp die Hälf­te davon ab. Er entspannte sich ein paar Stunden vorm Fernseher und ging schließ­lich, mit Cano im Gefolge, zu Bett. Nachts träumte er von Freya, die, natürlich ganz in Weiß, mit einem Toten­schädel Fuß­ball spielte und einen Treffer nach dem anderen erzielte. Im Tor stand nämlich er, Tim, und sie rügte ihn mit ironisch er­hobenem Zei­gefinger: »Timmi, Timmi, Timmi! Was machst du bloß für Sachen? Du musst aufpas­sen. Du musst besser auf den Ball aufpassen!«, während der einzige Zuschauer, Cano, nicht aufhörte zu bellen. Solche Dinge passieren, wenn man tagsüber mit ei­nem Beutel Menschen­knochen ins Krankenhaus fährt und abends Das aktuelle Sport­studio guckt.

       ◊

      In ungeduldiger Erwartung verbrachte Tim die nächsten Tage. Abgelenkt ging er sei­ner Arbeit nach. Am Montag und Donnerstag fuhr er in den Verlag und hinterließ dort bei den Kollegen einen noch verschlos­seneren Eindruck als oh­nedies schon. Sie kannten und schätzten ihn als zügigen, zuver­lässigen Arbeiter mit einer angemesse­nen Portion tro­ckenen Humors. Ansonsten gab er sich ihnen gegenüber norddeutsch kühl und reserviert, mitunter geradezu unnah­bar. Außerbe­ruflichen Aktivitäten, ge­selligen Abenden oder der alljähr­lichen Weihnachtsfeier, blieb er konsequent fern. Er sagte dann für gewöhnlich, er wohne zu weit weg und wolle seinen Hund nicht so lange allein lassen. Und das stimmte ja auch.

      An diesem Donnerstag verblüffte er ein paar von ihnen al­lerdings mit der Frage, auf wie alt sie einen Kochen schät­zen würden, den sein Hund im Wald aufgestöbert habe. Da­bei hielt er ihnen einen kleinen Fingerknochen aus seinem Fund unter die Nase, den er in seiner Hosentasche stecken hatte. »Keine Ahnung«, war der Tenor, »wozu willst 'n das wissen?« »Das hängt davon ab, wo er die ganze Zeit gele­gen hat.« »Und davon, wie viele Hunde ihn vorher im Maul hatten.« Einer meinte: »Sieht aus wie von einem menschlichen Finger. Du solltest das mal von einem Exper­ten begutachten lassen.«

      »Quatsch!«, sagte Tim. Nicht von einem Experten, sondern von einer Expertin. Das sagte Tim nicht.

      Die Expertin rief endlich am Freitag an. »Timmi?«, begann sie. »Aller Wahrschein­lichkeit nach stammt der Arm von einer jungen Frau, vielleicht zwanzig, vielleicht jünger, kaum älter. Etliche Jahre vor ihrem Tod hat sie sich, wie ich schon sagte, einen Bruch zugezogen, der Mittelhandknoch­en des Mittel­fingers muss dabei ziemlich heftig zersplittert sein, und sie hat mindestens einen Monat lang einen Gips­verband tragen müssen. Daran wird sich ja vielleicht noch jemand erinnern. Wie stehen denn die Ermittlungen?«

      »Hm«, antwortete Tim. »Und wie lange hat der Arm da ge­legen? Lässt sich dazu nichts sagen?«

      »Also, da kann man vorläufig nur schätzen. Wenn man da­von ausgeht, dass der Arm die ganze Zeit unter der Erde ge­legen hat –«

      »Geh mal davon aus.«

      »O.k., dann höchstens fünfzehn, mindestens zehn Jahre, würde ich sagen.«

      »Sehr vage«, murmelte Tim in den Hörer.

      »Tut mir furchtbar leid, dir nicht besser zu Diensten sein zu können«, empörte sich Freya. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie einige Leute mich hier angeguckt ha­ben, als ich mit deinen komischen Knochen ankam? Glaubst du vielleicht, man kann hier mal schnell einen Radio-Karbon­test durch­führen und keiner runzelt die Stirn?«

      »Naja, ich dachte, an einer Uni-Klinik« – Tim sprach das Wort Uni aus, als wäre es ein Nobelpreisträger – »wird doch sowie­so ständig gelehrt und geforscht. Und Studen­ten müs­sen Tests –«

      »Ich hab' irgendwelche Krimi-Märchen erfunden«, unter­brach Freya ihn, »über einen mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Zivil­ermittler. Ich musste für dich lügen!«

      »Wieso? Das stimmt doch. Ich ermittle und benehm' mich stets zivilisiert.«

      »Sehr lustig. Hast du wenigstens schon die Polizei infor­miert?«

      »Was denn, sind die noch nicht bei dir gewesen? Da sieht man mal, wie die arbeiten. Also, ich bin dir was schuldig.«

      »Was denn?«

      »Na, Dank, 'ne Menge Dank. Ich komme irgendwann


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