PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
es sich bei seinem rätselhaften Fund tatsächlich um Knochen der vermissten Regina Wilhelmsen handelte. Er schrieb sich ein paar wichtige Daten und Informationen ab, dann verließ er im Laufschritt die Bibliothek. Im Auto kramte er seine alte Schleswig-Holstein-Karte aus dem Handschuhfach hervor und suchte sie ganze zehn Minuten lang Planquadrat für Planquadrat, Millimeter für Millimeter nach einem bestimmten Namen ab. »Da«, rief er schließlich in der Lautstärke eines Jubelschreis und so überraschend aus, dass Cano, der sich gerade wieder auf der Rückbank hingelegt hatte, zusammenzuckte, »da ist es!« Sein Finger zeigte auf einen kleinen Punkt, daneben stand in winzigen Buchstaben: Felixdorf.
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Felixdorf lag nordwestlich von Kiel und war in der Tat so winzig, wie es die Buchstaben auf Tims detaillierter Schleswig-Holstein-Karte vermuten ließen. Kaum mehr als hundert Häuser, fast allesamt an einer einzigen, miserabel gepflasterten Straße gelegen, die sich durch den Ort zog, machten ihn aus. Tim fuhr selbige im vorsichtigen Schritttempo entlang, seinen Kopf abwechselnd nach links und nach rechts wendend, auf der Suche nach jenem Haus, dessen Bild er in der KN vom 30. November gesehen und sich aus dem Original fotokopiert hatte. Aber er kam zu jenem gelben Schild mit dem dicken, roten Strich, das überall in Deutschland das Ende einer geschlossenen Ortschaft markiert, ohne fündig geworden zu sein. Missmutig fuhr er weiter. Hinter einer scharfen Kurve, in der die Fichten eines beidseitig angrenzenden Waldstücks sich so weit über die Straße krümmten, dass ihr beinahe jegliches Tageslicht genommen wurde (weshalb auch ein Tempolimit 30 zur Vorsicht aufforderte), hinter dieser Kurve kam eine lange, geradlinige Allee ins Blickfeld, die zu dieser Jahreszeit mit den sich nussbraun, goldgelb und rötlich verfärbenden Blättern besonders malerisch wirkte. Eingehüllt in diese Farbenpracht, fuhr Tim weiter. Nach weniger als zwei Kilometern kam er an einer Einmündung auf der rechten Seite vorbei, die, wie er sich durch einen raschen Blick vergewisserte, zu einem ebenfalls alleenartigen – von Pappeln und Birken gesäumten – Privatweg gehörte, an dessen Ende ein kleines Landhaus sich erhob, dessen Weiß sich mit beigen und grauen Flecken herumschlagen musste und dessen Reetdach von grünen Moosflächen überwuchert war, die man sogar aus der Ferne wahrnehmen konnte. Und trotzdem sah dieses bescheidene Anwesen stolz, geradezu kühn aus, als wolle es der Einsamkeit der ansonsten weit und breit unbesiedelten und in schwermütiger Herbsttrübe daliegenden Landschaft ein wenig heiteres Leben abtrotzen – ein zum Scheitern verurteilter Versuch, wenn man die Stimmung im Innern des Hauses kannte. Denn die war um ein Vielfaches trüber, als ein Herbsttag in Norddeutschland jemals sein kann. Seit Jahren führten Schmerz und Trauer hier ein unbarmherziges Regiment und ließen sich nicht aus dem Amt jagen.
Tim hatte sein Auto in der Nähe der Zufahrt zwischen Asphalt und Straßengraben abgestellt. Über ihm wehte der Wind aus der Krone einer gewaltigen Buche bunte Blätter. Er ging ein paar Meter und stand jetzt mitten auf dem schmalen Weg, einer asphaltlosen Sandpiste, die vor allem in der Mitte, wo keine Autoreifen hinkamen, von Unkraut bewachsen und nicht gerade arm an Löchern und Unebenheiten war. Von hier aus blickte er geradewegs auf den dunklen Haupteingang in der Mitte des hellen Hauses am Ende der Zufahrt. Er war noch etwa hundert Meter von ihm entfernt und sah es sich genau an. Dann sagte er zu seinem besten Freund, der neugierig schnuppernd neben ihm im Wind stand: »Wollen wir da wirklich hin, Cano?«
In der Gewissheit eines Erfolges, den einem keiner mehr nehmen kann, ergreift manche Menschen kurz vor der Ziellinie eine unerwartete Gelassenheit und Geduld. Fast fertige Prüfungen werden in verlangsamtem Tempo zu Ende gebracht, die letzten Seiten eines Buches gelesen wie in Zeitlupe oder nach einer langen Reise im eigenen Auto die Geschwindigkeitsbeschränkung nach dem Passieren des heimatlichen Ortsschilds penibler beachtet als jemals zuvor. Vielleicht wurden aus diesem oder vergleichbarem Grunde schon Weltrekorde verpasst, Matchbälle verschlagen, Siege aus der Hand gegeben. Denn wenn etwa ein Sprinter bei einem internationalen Vergleich seiner Konkurrenz allzu überlegen ist und seine Gegner weit abgeschlagen hinterherhängen, während er sich siegessicher und souverän der Ziellinie und seiner Siegeskrone nähert, dann ist es schwer, noch das Äußerste aus sich herauszuholen. Vielleicht lässt man nach, um das Gefühl des Triumphs zu verlängern, um den Sieg auszukosten, vielleicht ist es Überheblichkeit, die den Sprinter denken lässt, er könne nun auch mit halber Kraft gewinnen, oder es ist Nervosität angesichts der Größe des Ereignisses, über die er plötzlich Zeit hat nachzudenken, vielleicht ist es auch nur das instinktive Bedürfnis, Kräfte zu sparen, sich ein wenig zu schonen, da der Sieg einem nicht mehr genommen werden kann. Aber die gleiche Höchstleistung wie bei einem Kopf-an-Kopf-Duell wird es nicht geben. Etwas in der Art muss, wenn es nicht einfach Angst war, in Tim vorgegangen sein, nachdem er das Haus der Wilhelmsens gefunden hatte. Es hatte auf dem Foto in der Zeitung natürlich anders ausgesehen, nicht so abgelegen gewirkt, und von einem so feudalen Grundstück war gar nichts zu sehen gewesen, aber es war eindeutig zu identifizieren. Tim wusste sich am Ziel, an einem ersten Ziel. Er hatte einen Etappensieg errungen, nahm er an, den ihm keiner mehr nehmen konnte. Aber es drängte ihn keineswegs, seine Hypothesen an realen Gegebenheiten, sicheren Fakten, lebenden Personen zu verifizieren. Vielmehr hatte er das Gefühl, sich jetzt erst mal bequem zurücklehnen oder mit Cano in aller Ruhe einen Spaziergang machen zu können. Warum sofort mit den Leuten sprechen? Das hatte Zeit. Das Haus konnte ja nicht weglaufen. Tim war, wie schon erwähnt, ein rationeller Typ, und er wusste, es machte wenig Sinn, bei den Wilhelmsens mit der Tür ins Haus zu fallen. Was er fragen und was er seinerseits von seinem Wissen preiszugeben gedachte, das wollte vorher wohl überlegt sein.
Natürlich war auch eine gehörige Portion Unbehagen im Spiel. Denn jetzt wurde es ernst. Tim, an sich schon nicht als Menschenfreund verschrien, musste mit Leuten reden, die er nie zuvor gesehen hatte, und ihnen, wenn es dazu kommen sollte, auch noch eine vielleicht nicht unerwartete, aber dadurch doch nicht minder erschütternde Mitteilung machen. Die Wahrheit kann furchtbar weh tun, denn im Gegensatz zur Lüge biedert sie sich niemals auf Grund irgendwelcher Umstände bei den Menschen an. War er sich im Klaren darüber, worauf er sich eingelassen hatte und welche Verantwortung er trug als Selfmade-Ermittler, mehr noch: als Bote des Todes? Bei solchen Aussichten rückten andere Dinge, die erledigt werden wollten, auf einmal ganz schnell wieder ins Blickfeld.
4 Eisenkrug
Wenn jemand an einem der folgenden Tage, es war später Oktober, in Rendsburg, Eckernförde, Kiel oder irgendwo dazwischen ein Juweliergeschäft betreten hat und sich an einen jungen, gut aussehenden Mann mit glatten, gleichmäßigen Gesichtszügen, etwas altmodisch auf Seitenscheitel gekämmten, dunkelblonden Haaren und südländisch dunklen, forschenden Augen erinnert, der mit einer schneidend scharfen, klaren Männerstimme mit norddeutschem Akzent von einem verwundert dreinblickenden Juwelier eine recht merkwürdige Auskunft verlangte, einen zerschlissenen Bundeswehrparka im Stil der Siebziger trug und vor dem Geschäft einen Hund angebunden hatte, der einem zu klein geratenen Schäferhund entfernt ähnlich sah, dann kann die betreffende Person davon ausgehen, dass sie Tim persönlich begegnet ist. Mit äußerster Verbissenheit folgte er nämlich seiner Spur, betrat Geschäft um Geschäft, holte den goldenen Anhänger mit der Aufschrift Regina ein ums andere Mal aus der Tasche und stellte immer wieder dieselben Fragen: »Können Sie sich erinnern, diesen Anhänger verkauft zu haben? Haben Sie vielleicht eine Idee, woher er stammen könnte?« Tim wusste, dass er jetzt in besonderer Weise auf Glück angewiesen war, denn er setzte voraus, dass dieser Anhänger in der Nähe des Fundortes erworben worden war, wofür zwar die Wahrscheinlichkeit sprach; einen Beweis dafür gab es jedoch nicht. Das Ding konnte ebenso gut aus München, Mailand oder Miami stammen. Aber warum sollte ihm Fortuna nicht mal hold sein, wenn er nur mit genügend Geduld zu Werke ging? Die brachte er in der Tat in bewundernswerter Weise auf. Und schließlich kam es, im Juwelierladen Eisenkrug in Kiel, zu einer ausgesprochen bemerkenswerten Begegnung. Der Inhaber hatte tatsächlich eine Idee, woher das Ding stammen könnte. Er war ein hagerer, kahlköpfiger Mann mit einer uralten Brille, deren riesige Gläser in ein dickes Gestell aus dunklem Plastik eingefasst waren, wie sie anno 2000 eigentlich nur noch chinesische Politiker trugen. Dahinter lugten seine durch die Linse erheblich vergrößerten grauen Augen hervor wie fette Fische aus