PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
du hin? Nur für mein persönliches anatomisches Gruselkabinett.«
Tim setzte sich wieder in seinen Lieblingssessel und dachte nach. Manchmal dachte er auch laut, und Cano spitzte andächtig die Ohren, als folge er irgendwelchen nur für ihn bestimmten, wichtigen Instruktionen. »Wir müssen zunächst mal herausfinden, wem der Arm gehört. Gehört hat. Angenommen, die Person ist tot, was ja mehr als wahrscheinlich ist, dann kann man davon ausgehen, dass die Umstände ihres Todes für Aufsehen gesorgt haben. Angenommen, sie ist entführt worden, plötzlich verschwunden, dann ist sie sicher irgendwann als vermisst gemeldet worden. Und wenn der Rest der Leiche genauso wenig aufgetaucht ist wie dieser Arm, dann heißt das, sie ist immer noch als vermisst gemeldet. Aber das polizeiliche Verfahren wurde natürlich längst eingestellt. Oder es ruht. Denn es gibt ja schon längst keine neuen Hinweise mehr. Es hilft alles nichts, wir müssen rausfinden, von wem dieser Arm stammt. Vielleicht wurde irgendwann mal jemand mit dem Namen Regina vermisst gemeldet. Verdammt, Tim, streng dich an, so ein Fall, der geht doch durch die Presse. War da denn nichts? Vor mindestens zehn Jahren ... Ich war Student oder Schüler ... Regina ... Regina ... Aber wir wissen ja nicht, dass der Name der Person wirklich Regina ist. Nennen wir sie einfach X. Wir nehmen mal an, Cano, X stammt aus Schleswig-Holstein. Wenn X in Schleswig-Holstein vermisst gemeldet und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nach X gesucht wurde, dann lässt sich darüber mit Sicherheit auch heute noch was finden. Zum Beispiel ... in der Zeitung!«
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Am Montag fuhr Tim nicht nach Hamburg zum Verlag, sondern nach Kiel in die Universitäts- und Landesbibliothek. Er ließ sich ins Magazin führen und suchte angestrengt in den auf Mikrofiche kopierten Seiten der Kieler Nachrichten nach einer Spur. Die KN war die größte Zeitung des Landes, und wenn in Schleswig-Holstein vor zehn bis fünfzehn Jahren ein Mädchen verschwunden war, so fand sich dazu bestimmt ein Hinweis. Tim ging systematisch-logisch vor. Er begann am 1. Januar 1985, das heißt vierzehn Jahre und zehn Monate in der Vergangenheit und damit ziemlich genau am Anfang des Zeitraums, der laut Freya in Betracht kam. Zunächst einmal interessierte ihn nur die Titelseite jeder archivierten Ausgabe. Sorgfältig las er alle Schlagzeilen, auch die kleineren, am Rande versteckten. Fiche um Fiche zückte er aus dem Kästchen in der breiten Schublade neben ihm, legte es zwischen die beiden Glasscheiben und schob es in das Lesegerät ein. Stunde um Stunde verbrachte er so in einer fieberhaften Anspannung und bemerkte kaum, wie die Zeit verrann. Er war versunken in eine Welt, in der die Raum- und Zeitgesetze andere waren, als die ihn umgebenden gegenwärtigen, ein Universum komprimierter Geschehnisse und Geschichten. Und er nahm nichts um sich herum mehr wahr. Seine ganze Konzentration galt den Ereignissen längst vergangener Tage, in denen Menschen wie Helmut Kohl, Ronald Reagan, Michail Gorbatschow, Khomeini, Ghadhafi, Rudi Völler, Steffi Graf oder Boris Becker für die größten Schlagzeilen sorgten und der Schock von Tschernobyl noch sehr tief saß.
Hungergefühle machten sich erst auf dem Heimweg im Wagen bemerkbar, nachdem Tim sein selbstauferlegtes Tagespensum bewältigt hatte. Verwundert fragte er sich, wie er den ganzen Tag lang ohne Essen hatte auskommen können. Als er am Abend zu Hause die Nachrichten einschaltete, stutzte er einen Augenblick, dass keine der schlagzeilenträchtigen Vorkommnisse und Verwicklungen, Geschichten und Gestalten, mit denen er den Tag verbracht hatte, hier auch nur mit einer Silbe erwähnt wurden. Sie hatten so kontinuierlich auf seine Wahrnehmung eingewirkt, dass sie noch jetzt als lebende Bilder vor seinem geistigen Auge standen. Es war alles längst historischer Ballast geworden. Einiges war es wert, Eingang in die Geschichtsbücher zu finden, das meiste aber war in den Sumpf des Vergessens gewandert. Vergänglich und vergesslich war die Welt. Und auch X war wohl von den meisten vergessen worden.
Nachts träumte Tim wieder schlecht. Diesmal verfolgte ihn ein unheimliches Wesen, das er niemals zu Gesicht bekam, und doch war es da, unsichtbar, unberührbar zwar, aber trotzdem erschreckend real. Und er wurde das Biest nicht los. Tim hatte sich für seelisch etwas robuster gehalten und war überrascht davon, wie leicht sich seine Psyche offenbar aus dem Gleichgewicht bringen ließ. Mit acht oder neun Jahren, vor der Scheidung seiner Eltern, hatte er heimlich Psycho, Die toten Augen von London und sogar Gruselfilme mit Dracula oder Frankenstein gesehen, aber von irgendwelchen Alpträumen deswegen keine Spur. Zumindest konnte er sich an keine erinnern, nie. An die Alpträume, die er seit Canos Fund im Wald hatte, erinnerte er sich dagegen unerfreulich gut. Hier war die Wirkung auf sein Unterbewusstsein von ganz anderer Qualität. Es fehlte nicht viel und er würde noch seinen Freud aus dem Regal ziehen. Vielleicht zeigte sich darin aber auch nur der sehr erhebliche Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit.
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Wo steckt Regina? Als Tim am dritten Tag seiner langwierigen und ermüdenden Tätigkeit im Zeitungsarchiv auf diese fett gedruckte Textzeile über einem Foto stieß, das eine vermisste und übrigens bildschöne Schülerin zeigte, fuhr ihm ein Blitz in die Glieder, der den inneren Jubelruf des Erfolges sofort verdrängte. Fast jeder kennt es, dieses seltsame Gefühl, etwas schon mal erlebt oder gesehen zu haben, ganz so oder zumindest ganz ähnlich, wie es sich jetzt – zum vermeintlich wiederholten Male – zuträgt oder zeigt. Psychologen bezeichnen diesen Effekt als Déjà-vu-Erlebnis. »Schon mal gesehen«, wenn man, verdammt noch mal, nur wüsste, wo; bekannt, wenn man, verdammt noch mal, nur wüsste, woher! Aus dem Fernsehen, einem Traum oder sogar aus einem früheren Leben? Jedenfalls hatte Tim genau so ein Gefühl beim Anblick des hinreißenden Mädchengesichts von Regina Wilhelmsen, die auf dem Foto vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein mochte. Das Bild befand sich in der Mitte der unteren Hälfte einer KN-Titelseite. Kaum dass er es erblickt und ohne dass er ein Wort gelesen hatte, überkam ihn eine instinktive Gewissheit, dass das eine heiße Spur war. Hastig las er den kurzen Text durch, der zu dem Foto gehörte.
Kiel. Seit vergangenem Samstag wird die achtzehnjährige Regina Wilhelmsen vermisst. Die Schülerin hatte sich Ermittlungen der Kripo Kiel zufolge gegen Mitternacht von der Diskothek »Dream« allein auf den Weg zurück zum elterlichen Haus bei Felixdorf gemacht, ist dort aber bis heute nicht angekommen. Regina trug eine blaue Jeans, weiße Turnschuhe der Marke Puma und einen schwarzen Wollpullover mit großen lila und grünen Karos, darüber eine beigefarbene Jacke. Die Polizei bittet um Hinweise über Reginas möglichen Verbleib. Bitte wenden Sie sich an die für ihren Bezirk zuständige Dienststelle, oder wählen Sie die Rufnummer ...
Im Regionalteil fand Tim eine genauere Beschreibung der Umstände von Reginas rätselhaftem Verschwinden, den Namen des Inhabers der Diskothek, ein Foto des Hauses der Familie Wilhelmsen und weitere Hintergrundinformationen. So erfuhr er, dass Reginas Vater bereits tot war, als sie verschwand, dass sie eine Schwester namens Charlotte hatte und dass ihre Mutter Vera hieß. Letztere wurde mit einigen Aussagen über das Wesen ihrer älteren Tochter zitiert. Voller Lebenslust und Energie sei sie gewesen. Intensiv studierte Tim die nachfolgenden Ausgaben der Zeitung, aber es fanden sich nur noch drei kurze Meldungen, die wenig Neues brachten. Die erste, vom 2. Dezember 1987, trug den Titel: Noch keine Spur im Fall Wilhelmsen, die zweite, vom 5. Dezember, berichtete über Erste Hinweise im Fall Wilhelmsen und handelte von einem jungen Mann, der gesehen haben wollte, wie Regina in einen Wagen eingestiegen sei, sich aber weder an Farbe noch Fabrikat, noch Fahrer, noch an sonst irgendetwas von Belang erinnern konnte. Schließlich teilte die Zeitung am 10. Dezember unter der Überschrift Suche eingestellt mit, dass die Polizei – na, man kann sich ja denken, was. Ein Polizeisprecher wurde mit der Äußerung zitiert, es gebe einfach zu wenig Anhaltspunkte für eine zielorientierte Suche. Man könne schließlich nicht das ganze Land durchkämmen. Auch sei es ja durchaus möglich, dass Regina noch am Leben sei und sich einfach irgendwohin abgesetzt habe, was gerade bei jungen Menschen unerklärlicherweise immer wieder vorkomme. So oder so hoffe man aber nach wie vor auf Hinweise aus der Bevölkerung, die auch nach Jahren noch wertvolle Erkenntnisse bringen könnten.
Der meint wohl mich, dachte Tim. Ansonsten schienen die wertvollen Erkenntnisse weitgehend ausgeblieben zu sein, wie Tim feststellte, als er weitere Mikrofiches einschob. Er konnte förmlich spüren, wie angesichts der schlechten Hinweislage Presse und Öffentlichkeit rasch das Interesse an dem Fall Wilhelmsen verloren, und alles sprach dafür,