Balkanmärchen auf 251 Seiten. Johann Heinrich August Leskien
die Reise. Unterwegs kamen sie an
einen Ort, wo es kein Wasser gab; sie waren aber
beide durstig und suchten eifrig nach Wasser; endlich
fanden sie einen Brunnen, aber ohne Schöpfeimer,
und hatten nichts, womit sie das Wasser heraufziehen
konnten. Da trieb der Prinz den Zigeuner sehr an, er
solle in den Brunnen steigen und Wasser heraufholen.
Der wollte aber nicht, sondern schrie ihn an: »Wenn
du durstig bist, steig selber hinein und trink.« Da der
Prinz nun sehr durstig war, zwängte er sich in den
Brunnen hinein, trank sich satt und wollte wieder heraussteigen.
Aber der Zigeuner versperrte ihm die Öffnung,
wollte ihn nicht herauslassen, sondern hatte die
Absicht ihn hineinzustoßen, damit er umkomme. Der
Prinz bat ihn, er möge ihn herauslassen, der aber
wollte nicht, sondern sagte: »Gib mir das Zeugnis,
dann lasse ich dich heraus.« Der Prinz, dem sein
Leben lieb war, gab es ihm, aber der Zigeuner ließ ihn
doch nicht heraus, sondern wollte ihn umbringen. »Jawohl,
« rief er, »ich soll dich herauslassen, daß du
mich dann anzeigst.« Da der Prinz kein anderes Mittel
hatte, ihn zu überzeugen, daß er es niemand verraten
werde, schwur er ihm bei seinem Leben, daß er
ihn nicht anzeigen werde, und so ließ der Zigeuner ihn
heraus, und er wurde dessen Diener; der Zigeuner
aber trat als Prinz auf. So reisten sie weiter und
kamen bei dem Zaren an.
Der Zigeuner gab das Zeugnis ab, und der Zar
nahm ihn als Sohn auf, der Prinz aber blieb dessen
Diener. Aber der Zigeuner hatte doch Angst, der Prinz
könnte sich ausweisen, und dachte nach, wie er ihn
beiseite schaffen könnte. Er erfuhr, daß in einem anderen
Lande ein Zar sei, der eine Tochter habe, und
daß man jeden töte, der da komme, um sie zu werben.
Da faßte er den Plan, den Prinzen zu diesem Zaren als
Brautwerber zu schicken, um ihn so zu verderben.
Als der Prinz mit einigen Leuten aufgebrochen war
und seines Weges zog, trafen sie auf einen Zug Ameisen.
Als der Prinz sie sah, befahl er seinen Leuten,
stehen zu bleiben, bis die Ameisen vorüber wären.
Die blieben also zur Seite stehen, die Ameisen zogen
vorüber, und zuletzt kam eine große Ameise; die
sagte zu ihm: »Du hast mir Gutes getan; was wünschest
du dir Gutes von mir?« Darauf antwortete er:
»Du bist eine Ameise, was kannst du mir Gutes tun?«
Da riß die Ameise sich ein Flügelchen ab, gab das
dem Prinzen und sagte: »Ich weiß, wohin du gehst,
und ich werde dir einmal nötig sein. Du brauchst nur
diesen Flügel am Feuer anzuwärmen, und ich
komme.« Er nahm den Flügel und steckte ihn zu sich.
Dann zogen sie weiter und kamen an einen Ort, wo
Kinder junge Adler aufgriffen; die kaufte er ihnen für
Geld ab und ließ sie am Leben. Da kam die Adlermutter
zu dem Prinzen und sagte: »Du hast mir Gutes
getan, was wünschest du von mir?« Er antwortete:
»Du bist ein Vogel, was kannst du mir Gutes tun?«
Darauf riß der Adler sich eine Feder aus, gab ihm die
und sagte: »Ich weiß, wohin du gehst, ich werde dir
einmal nötig sein. Wärme die Feder am Feuer an, und
ich komme.« Da nahm der Prinz die Feder, sie zogen
weiter und kamen an einen Ort, wo Kinder junge
Störche aufgriffen; auch diese kaufte er los und ließ
sie fliegen, daß sie am Leben blieben. Der Storch kam
dazu, und auch der fragte ihn: »Was kann ich dir
Gutes tun?«, riß sich eine Feder aus, gab sie ihm und
sagte: »Ich werde dir nötig sein«; und wies ihn an, die
Feder am Feuer zu wärmen, dann werde er zu ihm
kommen. Da nahm der Prinz die Feder und steckte sie
ein. Auf der Weiterreise kamen sie an ein Wasser, wo
Fischer einen Fisch gefangen hatten. Auch den kaufte
er los und ließ ihn ins Wasser, so daß er am Leben
blieb. Der Fisch aber sagte zu ihm: »Was wünschest
du dir Gutes von mir?« Der Prinz antwortete: »Du
bist ein Fisch, was kannst du mir Gutes tun?« Da riß
der Fisch sich eine Schuppe ab, gab sie ihm und sagte
dazu: »Ich weiß, wohin du gehst, und werde dir einmal
nötig sein; wärme dann die Schuppe am Feuer,
und ich komme.«
Endlich kamen sie bei dem Zaren an, und der Prinz
verneigte sich vor ihm und begrüßte ihn mit »Gott
segne dich, Zar!« Der Zar erwiderte den Gruß, und
dann fuhr der Prinz fort: »Ich bin von dem und dem
Zaren gesandt, bei dir um deine Tochter für seinen
Sohn zu werben. Willst du sie uns geben?« – »Wir
haben sie ja zum Verheiraten,« antwortete der Zar,
»und warum sollten wir sie euch nicht geben?« Am
Abend aber, als es dunkel wurde, nahm der Zar je ein
großes Maß Weizen, Roggen, Gerste, Mais, Hirse,
Hafer, rührte alles durcheinander und sagte zu dem
Prinzen: »Du bist wegen meiner Tochter gekommen,
und wir wollen sie dir auch geben, aber wir haben die
Sitte, daß wir dem Bewerber aufgeben, dies alles in
derselben Nacht auseinander zu lesen, jede Art für
sich; wenn du das machst, gebe ich dir meine Tochter,
wenn nicht, töte ich dich.« Der Prinz dachte erst, daß
das niemals ein Mensch machen könne, dann aber
kam ihm der Gedanke an den Ameisenflügel, er erwärmte
ihn, sogleich kam die Ameise zu ihm, und er
erzählte ihr, was der Zar befohlen hatte.
Da rief die Ameise alle Ameisen herbei, und sogleich
lasen sie Korn für Korn, jede Art für sich, auseinander,
alles, was durcheinandergerührt war. Als es
Tag wurde, und der Zar sah, daß alles fertig war,
dachte er sich etwas anderes aus. »Du sollst ein Kind
suchen, das seit drei Jahren tot ist, und es wieder lebendig