Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie. Siegfried Placzek

Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie - Siegfried Placzek


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Sinne fallen zu lassen, zum mindesten schärfer zu charakterisieren, »sich nicht mit den einfachen Worten zufrieden zu geben, sondern die spezielle Seelenmechanik psychologisch zu erkennen, die den fruchtbaren Boden für das Unkraut Hysterie ergibt«. l. c. S. 140Mit Recht fragt Neutra: »Wie kommt es nun, dass jene sog. hysterisch Veranlagten unter den Gefangenen, die auch die Schreckwirkungen des Krieges durchgemacht haben und außerdem den schweren Kummer erduldeten, den die Gefangenschaft und die Entfernung von Heimat und Familie mit sich bringt, trotz ihres angeblich schwachen Willens nicht erkrankten? Wie kommt es, dass so mancher unter ihnen endlich an Hysterie erkrankte just gerade zu einem Zeitpunkte, wo sich seine Hoffnung erfüllen soll, wieder die Heimat zu sehen? Sollte die Willensschwäche des hysterisch veranlagten Gefangenen sowohl den Schreck des Augenblickes als auch die langdauernde Gemütsdepression, die durch seine Situation bedingt ist, so gefahrlos für seine Gesundheit ertragen? Musste derartiges nicht zum Nachdenken anregen, ob es denn auch wahr sei, dass die Willensschwäche als Disposition für die Entstehung der Hysterie angesehen werden könne?«

      Deshalb sieht Neutra in allen der Hysteriebildung bezichtigten Motiven »nur sozusagen willkommene Anlässe, um mit der hysterischen Erkrankung hervorzutreten, sie, ich möchte sagen, vor dem Beobachter, vor dem Publikum, ja vor sich selbst begreiflich, d. h. genügend kausal bedingt, erscheinen zu lassen. Sie sind stets nur Deckgründe, dazu bestimmt, die wahren Ursachen der Erkrankung zu verdecken«.

      Jedes Ereignis, jede Situation, jede Einwirkung von außen macht die aktiven Kräfte, Trieb und Hemmung frei, aus deren Kraftverhältnis die Handlung resultiert, entweder triebhaft oder moralisch. Dagegen schafft die Situation, die zur Hysterie führt, Trieb und Hemmung gleich stark, woraus die Unmöglichkeit einer entsprechenden Reaktion entspringt. In dieser Unfähigkeit der Seele, richtig zu reagieren, sieht Neutra die Wurzel der Hysterie, die also auch nicht angeboren ist.

       Soweit der Streit der Geister sich darum dreht, ob die Hysterie ein geschlossenes Krankheitsbild ist und als solches weiter zu existieren ein Recht hat, pflichte ich aus eigenster Erfahrung gern denen bei, die nur eine hysterische Reaktionsweise anerkennen. Es wäre sicherlich auch kein Schaden, wenn die Krankheit »Hysterie« verschwände, denn mit ihr verschwände auch die leichte und leichtfertige Anwendung des Begriffes »hysterisch« auf alles und jedes. Keineswegs kann ich aber die Ansicht teilen, dass die Stigmata hysterica stets autosuggestiv oder durch den Untersucher suggeriert seien. Wohlwill sieht in der hysterischen Anästhesie nichts Passives, sondern etwas Aktives, nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel, nicht etwa auf einer Absperrung des Sinnesreizes vom Bewusstsein beruhend, sondern auf einer aktiven Unterdrückung der von dem kranken Glied ausgehenden Empfindungen. Kollarits l. c. hält sie nicht für unterdrückt, sondern verleugnet. Um anästhetische Zonen überhaupt nicht entstehen zu lassen, fordert er, dass überhaupt nicht darnach geforscht und so untersucht werde, dass sie nicht entstehen können. In jüngster Zeit betont Seelert »Zur psychoanalyt. Traumdeutung«, Dtsch. med. Wochenschr. 1921. Nr. 40.nachdrücklichst, dass die einseitige Sensibilitätsstörung der Hysterischen Produkt der Untersuchung ist, abhängig von der Art, wie untersucht wird.

      Vor der Annahme rein suggestiver Erzeugung müsste eigentlich schon die bewährte Untersuchungstechnik des Nervenarztes schützen. Da diese bei sachgemäßer Anwendung jede Suggestion streng fernzuhalten weiß, wäre es ganz unverständlich, wie die Unempfindlichkeitsgrenzen sich gerade so scharf in der Mittellinie abgrenzen sollten, wie der willkürlich gar nicht unterdrückbare Hornhaut- und Rachenreflex verschwinden kann, wie die Farbenperzeption so bestimmte Verschiebungen erfahren kann usw. Ein anderes ist es nur, ob man krankhafte, hysterieverdächtige Erscheinungen durch die Auffindung der Stigmata bestätigt glaubt, ein anderes, ob man ohne anderweite krankhafte hysterische Erscheinungen aus der zufälligen Auffindung einer anästhetischen Zone unbedingt die Hysterie erschließt. Ganz besonders scheint mir für die Tatsächlichkeit der hysterischen Stigmata die Übereinstimmung in ihrer Erscheinungsform zu sprechen, und Pierre Jannet trifft tatsächlich den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt:

      »Sollten sich etwa in allen zivilisierten Ländern, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die Hysterischen verabredet haben, dieselben Sachen zu simulieren?« Steyerthal, l. c, S. 82.

      Curschmann meint, die Realität, das primäre Vorhandensein der hysterischen Gefühlsstörungen lasse sich dadurch beweisen, dass man vor der Prüfung der Gefühlsqualitäten ganz stillschweigend die sensiblen Reflexe durchprüfe, vor allem auch solche, die auch der ausgepichteste Traumatiker nicht kennt, z. B. den sensiblen Reflex des äußeren Gehörgangs.

      In letzter Zeit hat Bröse Centralbl. f. Gynäkol. Sept. 1921.meine Ansicht anerkannt und die Überzeugung ausgesprochen, dass die Stigmata wirklich vorhanden sind, womit er natürlich nicht bestreitet, dass sie gelegentlich suggeriert werden können.

       Mit dem Glauben an die Tatsächlichkeit der Stigmata wird natürlich nicht bestritten, dass diese Stigmata suggeriert werden können. Das ist ja durch die Eigenart der hysterischen Psyche nur zu verständlich. Nicht minder leicht erscheint ihre Entstehungsmöglichkeit durch Nachahmung gegeben. Demnach bleibt für mich die hysterische Reaktionsweise auf dem Boden eines disponierten Nervensystems tatsächlich möglich und ihr Vorhandensein durch den Nachweis der Stigmata bewiesen, durch ihr Fehlen nicht widerlegt. Es ist aber nicht angängig, aus zufällig festgestellten Stigmaten ohne weiteres auf eine Hysterie zu schließen, wenn keine sonstigen krankhaften hysterischen Äußerungen solche Vermutung stützen. Bei solcher Auffassung scheint es nicht unangebracht, auch vom Geschlechtsleben der Hysterischen zu sprechen.

      Diese Ansicht findet noch eine gewichtige Stütze in neuzeitlichen Bemerkungen Binswangers zu einem Aufsatz von Sydney Alrutz: »Die Bedeutung des hypnotischen Experiments für die Hysterie« Berliner klin. Wochenschr. 1921, Nr. 20.. Es ist mehr als beachtenswert, wenn ein Mann von der Bedeutung Binswangers gegen die herrschende Auffassung Stellung nimmt, wonach »alle hysterischen Krankheitsvorgänge ausschließlich seelischen Ursprungs seien und durch die Macht der Emotion und Suggestion allein erklärt werden können«. Binswanger findet gewisse hysterische Funktionsstörungen auf dem Gebiete der Motilität, Sekretion, des Stoffwechsels durch die Psychogenie nicht restlos erklärt und in dieser Auffassung scheinen ihn die Experimente, die Dr. Alrutz ihm vorführte, zu bestärken. An einer dem Experimentator ganz unbekannten Dame, die früher niemals hypnotisiert oder zu ähnlichen Experimenten verwendet wurde, die auch den Zweck des Experimentes nicht kannte, konnte Alrutz durch abwärts gehende Passes über den entblößten Unterarm allmähliche Hebung des Armes im Schultergelenk und des gleichseitigen Fußes bewirken, letzteres durch Irradiation. Die Hebung konnte auch nicht verhindert werden, wenn die Dame aufgefordert wurde, sie zu unterdrücken. Sie verspürte die leichte Erschütterung der Luft, die Wärme, merkte deutlich die Hebung und verfolgte sie als Beobachter.

      Es bleibt also ein erstaunliches, bisher unerklärliches Phänomen, – auch Binswanger gesteht, keine Erklärung zu wissen, – dass Passes – ohne jede Suggestion – lokale Veränderungen mit Neigung zur Irradiation auf der gleichen Körperseite hervorrufen. Unterstellt man die Ansicht Dr. Alrutz als zutreffend, dass »Energien«, also Emanationen des Menschen, solche Wirkungen üben können, so sind wir mitten in der bisher verlachten Reichenbachschen Lehre. Jedenfalls gebietet diese neueste Wandlung Vorsicht!

      B. Die sexuelle Wurzel der Hysterie

      Inmitten der seltsamen Wandlungen in der Hysterielehre, nämlich Aufwärtsentwicklung bis zum anscheinend gesichertsten Einheitsbau, jäher Zusammenbruch durch Unterhöhlung der Fundamente und zeitweilige Wiedererrichtung, sehen wir groteske Rollenveränderungen in den Werturteilen, die man den Geschlechtsorganen und dem Geschlechtsempfinden als Ursachen der Hysterie beimaß. Dem Hippokrates schob man den Ausspruch zu, dass der Uterus wie ein wildes Tier im Körper herumschweife und glühend nach Kindern verlange. Hiermit tut man aber Hippokrates unrecht, denn, wie Steyerthal sagt, kommt das Wort »Hysterie« in des Hippokrates Schriften nur ein einziges Mal vor. In einem Vortrag des Timaeus findet sich die Stelle:

      »Sowie der männliche Geschlechtstrieb einem wilden Tiere gleich jegliche Schranken durchbricht, so gibt es auch im Schoße des Weibes einen Keim, der, wenn


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