Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie. Siegfried Placzek
Also ein nach Kindererzeugung gieriges Tier ist der Uterus, das nach Befriedigung schreit, wenn anders es nicht wie ein hungriges Tier im Körper umherwandern und alles in Verwirrung bringen soll! Mit dieser Lehre wurde der Uterus von Galen zur Ursache der Hysterie gestempelt, und blieb es bis auf den heutigen Tag, trotzdem Charcot nachdrücklichst den Genitalorganen jede ursächliche Bedeutung für die Hysterie bestritt, und diese Ehrenrettung in der Neurologenwelt nach Charcot ein selbstverständliches Dogma wurde. Steyerthal spricht direkt von einer schmachvollen Fessel, die Charcot von einer schwer verkannten und verdächtigten Gruppe von Kranken riss, und vergleicht diese Tat mit jener des großen Arztes der Revolutionszeit, der die von einem grausamen Zeitalter für die Geisteskranken geschmiedeten Eisen zerbrach. Er nimmt den Fluch von der Hysterie, dass die unbefriedigte Liebessehnsucht des Weibes die Wurzel jenes Übels bilde.
»Zwei Jahrtausende hat die ärztliche Welt ob dieser Frage gestritten. Von Hippokrates bis Charcot ist in der Geschichte der Hysterie nur eine einzige Periode, – die Sexualperiode könnte man sie nennen –, denn während dieser ganzen Zeit kommt der Gedanke, das sexuelle Moment, von dem die Krankheit ihren Namen trägt, spiele wirklich eine Rolle dabei, nicht ganz zum Schweigen. Der große Maître de Salpetrière ist es, der den Wahn zerstört. Durch diese große Tat ist er nicht nur Philippe Pinel, sondern jedem gerecht und edel denkenden Menschen im Innersten verwandt. Wer heute Charcots Statue umstürzt und die Hysterie, also die Mannstollheit der Weiber, als Grund der Hysterie wieder in ihr Recht einsetzt, der handelt so wie einer, der aus der Rumpelkammer der Salpetrière die alten verrosteten Eisenklammern hervorsucht, um arme Seelenkranke hineinzuzwängen, und das tut ihr Gewährsmann ... Siegmund Freud in Wien Steyerthal, I. c.«
Oppenheim lehnt Beziehungen »des Uterus zu diesem Leiden«, (nämlich der Hysterie) nicht ganz ab, hält sie nur für »weit überschätzt Lehrb. d. Nervenkrankheiten. Karger, Berlin, S. 1394«. Er betont aber, dass »die Erkrankungen der Geschlechtsorgane« das Seelenleben besonders zu beeinflussen vermögen, denn »die mit diesem Leiden behafteten Frauen sind häufig unfruchtbar, ihr Geschlechtsleben ist mehr oder weniger beeinträchtigt, ihre Ehe meist keine glückliche, und das ist die Quelle, aus der die Hysterie ihren Ursprung herleiten kann.«
Ähnlich äußert sich Gruhle l. c.. »Wenn heftige, von den Frauenorganen ausgehende Schmerzen den Organismus herunterbringen, wenn durch eine Uterusverlagerung oder Myome eine Empfängnis verhindert wird, und eine Ehefrau unter der steril bleibenden Ehe seelisch sehr leidet, so können selbstverständlich neurasthenische Stimmungen auftreten, die zugleich mit der Ursache dann verschwinden.« Also doch ein unumwundenes Geständnis, dass Erkrankungen der Geschlechtsorgane die Hysterie entstehen lassen können, – nicht reflektorisch als direkter Reflexreiz, wie man auch anzunehmen pflegt, und wie besonders die Gynäkologen in grob mechanischer Auffassung annahmen und annehmen, sondern auf dem Umwege über die Psyche des Hysterieträgers! Nur die im Geleit der Erkrankung anschließenden Ideengänge, die Sorge um das eigene Schicksal, die Gefährdung der Fortzeugung, die Gefährdung der Ehe sollen die Psyche alterieren können! Sollte aber ein gleicher und wenigstens ähnlich starker psychischer Insult nicht auch von dem normalen Geschlechtsapparat als solchem auf dem Umweg über die Psyche möglich sein? Der ruhende Geschlechtsapparat des Weibes sendet doch ständig Empfindungen und Vorstellungen zum Gehirn und sättigt es mit erotischer Spannung, wie viel mehr muss jeder außergewöhnliche Vorgang im Geschlechtsapparat, besonders der menstruelle Reiz, die Wollusterregung, diese dauernde telegraphische Fernwirkung an Stärke überbieten! Kann es doch nur eine Frage quantitativer Wechselwirkung sein, wenn auch das normale Geschlechtsleben Hysterie auslöst. Lewandowsky spricht direkt von der bekannten Bedeutung der Menstruation »als einer Steigerung der Disposition zu einzelnen hysterischen Manifestationen« Die Hysterie. Springer, Berlin 1914, S. 124. Also als völlig Neues entsteht die Hysterie nicht aus dem Geschlechtsapparat, sondern die Anlage zur Hysterie, zumeist angeboren, ererbt, oft schon lange vor Eintritt des Uterinleidens offenkundig, muss vorhanden sein, und erst dann kann die Hysterie aufflammen. Ob das nur auf dem Umwege über die Psyche geschieht oder doch auch als reflektorischer Reiz möglich ist, erscheint mir immerhin fraglich.
Dass neben dem Uterus auch der Eierstock für die Hysterie verantwortlich gemacht wurde, kann nicht wundernehmen, da schon nach der alten Galen'schen Idee verhaltenes weibliches Sperma die hysterischen Krämpfe verschuldet, und noch 1846 Schutzemburger die Ovarien gleicher Schuld bezichtigte. Immerhin erscheint es doch mehr als auffallend, dass ein so scharfsinniger klinischer Beobachter wie Charcot die bisher noch phantastisch anmutende Lehre von der ursächlichen Beziehung des Ovariums zur Hysterie durch sein Dogma von der »Ovarie hystérique« bedenklich festigte. »Mehr als auffallend« sage ich, weil sein Vorgänger Briquet solchen Zusammenhang durchaus abgelehnt hatte. Wohl hatte auch dieser erkannt, dass fast die Hälfte aller Hysterischen an Schmerzen der Unterleibgegend litte, er spricht aber von der Coeliagie, einer Schmerzempfindlichkeit in der Colongegend. Für Briquet ist die Hysterie ein dynamisches Leiden derjenigen Teile des Gehirns, die den Affekten und Empfindungen dienen. Die Erregbarkeit dieser Teile werde durch die die Hysterie verursachenden Momente gesteigert, die affektiven Reaktionen verlaufen nicht mehr in normalen Grenzen, sondern übermäßig, ungeordnet und verkehrt. Die anscheinend erkrankten Organe wie Uterus, Magen usw. »n'éprouvent quelque chose quand l'encéphale à diriger vers eux ses manifestations«. Erst Charcot glaubte bei Druck auf diese Schmerzstelle das Ovarium, einen runden glatten Körper, abtasten zu können, und da er durch solchen Druck hysterische Krämpfe sogar kupieren, bzw. auslösen konnte, so musste es eben das Ovarium sein, was hier getroffen wurde, das doch im kleinen Becken liegende Organ, das man von außen gar nicht abtasten kann. Gläubig wurde auch dieses Dogma, wie alle Lehren Charcot's, aufgenommen und weitergelehrt. Und so pressten die Nervenärzte und Ärzte bei passender Gelegenheit die Empfindlichkeitszone in dem Wahn, den Eierstock zu treffen. Wie ein Druck auf diese Stelle krampfauslösend oder kupierend wirken soll, wurde nicht weiter gedeutet, auch niemals die Frage ventiliert, ob nicht jede Körperstelle bei Hysterie, wenn nur die Suggestion nachdrücklichst wirkt, gleichen Effekt erzielen könne. An sich erscheint es ja möglich, dass eine schmerzende Stelle unter starkem Druck zu schmerzen aufhört; dass aber gerade der Eierstock so wirken soll, war und ist durch nichts bewiesen. Dass die Druckschmerzhaftigkeit gewisser Teile des Abdomens eine Empfindlichkeit oder eine Entzündung des Ovariums beweist, wie Piorry, Schutzemburger und Négrier annahmen, hält Briquet für durchaus irrig. Diese Schmerzhaftigkeit sitzt ausschließlich in den Muskeln. Beseitigt man diese Schmerzhaftigkeit, so kann man die Gegend des Ovariums so viel drücken wie man will, es entsteht keine pathologische Hyperalgesie. Keineswegs wünsche er aber mit dieser Ansicht zu behaupten, dass die Ovarien bei Hysterie niemals empfindlich seien. Lewandowsky baut diese Lehre aus, indem er es für »im allgemeinen unmöglich« hält, bei einfachem Druck auf das Abdomen das Ovarium überhaupt zu erreichen.
»Es gibt keinen Ovarialpunkt, ja es gibt, selbst wenn man von der Zurückführung auf das Ovarium ganz absehen will, überhaupt keinen fixen hyperalgetischen Punkt, und wenn einzelne Regionen bei der Hysterie mit einer gewissen Vorliebe hyperästhetisch werden, so ist auch das noch zu einem Teil auf die seit lange auf diesen Punkt eingestellte Untersuchungstechnik des Arztes zurückzuführen« l. c.
Nach der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschenden neurologischen Lehre Romberg's galten die hysterischen Symptome als reflektorisch, bedingt durch eine Reizung des Uterinsystems. Lewandowsky nennt das »moderne Fassung der alten Uteruslehre«, und dem damaligen Stande der Wissenschaft entsprechend wurde damit als Sitz der Hysterie das Rückenmark erklärt.
Endlich glaubte W. A. Freund in der nach ihm genannten Freundschen Krankheit, der Parametritis chronica atrophicans, die Quelle der Hysterie zu entdecken. Die Krankheit, im Wesentlichen ein cirrhotischer Schrumpfungsprozess des weichen Bindegewebes, soll eine Folge mannigfaltiger sexueller Insulte sein (Coitus reservatus, Abort, Geburt usw.), kann aber nach Freund ohne solche Ursachen auch bei Kindern und jungen Mädchen, fortgeleitet von Erosionen und Geschwüren des Darms auftreten. Die hierdurch bewirkte Verkürzung des sexuellen Bandapparates und die Verlagerung der Organe selbst, speziell der Blase, der Gebärmutter, der Eierstöcke, ist bei jeder Alteration mit Schmerz verbunden.