Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
nun der alleinige Versorger für seine Mutter werden und suchte sich einen schnell zu erlernenden Beruf aus. Er wurde 1925 Maurer. Einige Jahre später wechselte er auf die sichere Staatsseite und ging zur Baupolizei. Wiederum etwas später wurde er Staffelführer bei der Bereitschaftspolizei.
In jenem Jahr 1966 befragte ich ihn zu seiner Polizeierfahrung und ließ mir Anekdoten aus seiner Einsatzzeit erzählen. Was bei mir tief im Gedächtnis und als politische Erfahrung hängen blieb, war folgendes Gespräch.
„Was war der aufregendste Einsatz, den du leiten musstest?“, fragte ich meinen Vater.
„Das war der Einsatz in Köln 1932. Ich befehligte zwei Hundertschaften, die dort eine Demo der KPD von der einen Aufmarschseite her absichern sollten. Von der anderen Seite hatte sich eine unangemeldete NSDAP-Marschkolonne in Gang gesetzt, um die gegnerische KPD-Demonstration zu stören und zu zerschlagen. Ich rief meinen Vorgesetzten im Präsidium an. Da hielt sich gerade unser erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, auf; der war damals Oberbürgermeister von Köln. Ich fragte, ob es nicht sinnvoll sei, mit meinen Hundertschaften zwischen die beiden Fronten zu gehen, die sich aufeinander zu bewegten, was zu bösen Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten und vielleicht sogar mit Toten enden könnte. Man beriet sich dort kurz und übermittelte mir nach zirka zehn Minuten den Befehl, ich solle die Parteien aufeinander losschlagen lassen und nur zusehen, dass nicht die Geschäfte ringsum in Mitleidenschaft gezogen würden. Wenn sich Rechte und Linke gegeneinander aufrieben, dann brauche der Staat nur zusehen. Ich fand, dass dies eine grobe Fehlentscheidung war. Das Resultat waren zwei Tote auf Seiten der Rot-Front-Leute und über sechzig Verletzte, darunter zwölf Schwerverletzte.“
Mein Vater war damals Mitglied der SPD.
*
Hanna und ich erzählten uns unsere Familiengeschichten und fanden es spannend herauszufinden, wie sich „die Alten“ damals im »Tausendjährigen Reich«, das zwölf Jahre währte, wohl verhalten hatten. Wir entdeckten von Treffen zu Treffen immer neue, manchmal recht überraschende Nuancen unserer Familiengeschichten, und da wir im Geschichtsunterricht laut Lehrplan gerade die Nazizeit durchkauten, war es für uns besonders spannend. Das war zwar keineswegs ein erotisches, vielmehr ein ernüchternd lehrreiches Thema. Und dennoch sprachen wir – meistens nach unseren knutschreichen Liebeleien – gerne über die Erfahrungen mit unseren Familien.
Noch mehr aber sprachen wir in jener wolkenbe-deckten Augustwoche über die sinnentleerten Wohlstandsideale und wie man andere Ideale an deren Stelle setzen könnte. Da gab es die Gegenkultur der Hippies, der Blumenkinder, die sich seit 1965 rasant von San Francisco aus über die westliche Hemisphäre der Jugendlichen verbreitet hatte.
„Schatzi“, sagte ich, „ich finde die Hippies gut, die haben eine Lebensvorstellung, wie sie mir gefällt: frei von Zwängen und frei von all den kleinbürgerlichen Tabus.“
„Ja“, antwortete Hanna, „frei von diesem und jenem – das klingt gut. Aber wofür sollten wir eintreten? Was ist unser Ziel?“
„Unsere Selbstverwirklichung“, sagte ich.
Anders als die Gammler, die dem Leistungsdruck nur entfliehen wollten, war die Flower-Power-Bewegung der Hippies auf der Suche nach neuen, menschlicheren Lebensweisen und Umgangsformen. Und wie wir hörten, entstanden in den USA auf dem Land die ersten Kommunen.
Die Hippies trugen bunteste Klamotten und schulterlanges Haar wie die Gammler. Die Mädels steckten sich Blümchen ins Haar, trugen wie die Jungs farbige Stirnbänder und bunt gescheckte Halstücher. So etwa kleidete sich jetzt auch Hanna, sogar in der Bettinaschule, wo sie von nun an das erste Hippiemädchen und modisches Vorbild für ihre Klassenkameradinnen war.
Nur ein Jahr später sollte die BRAVO das Hippie-Outfit kommerzialisieren und auf eine reine Modebewegung reduzieren.
Ich ging in den Schulmonaten nach den Sommerferien morgens als braver Schüler im üblichen und langweiligen Dresscode zum Unterricht. Aber nach der Schule ließ ich die Sau raus und ließ die Farben in mein graues Leben. Das war fast schon als mutig zu bezeichnen.
„So willst du auf die Straße!“, rief Mutter entsetzt aus. „Was sollen denn die Nachbarn denken!“
Als hätte die Schallplatte einen Sprung, hörte ich diese Vorhaltungen wohl gefühlte Ewigkeiten lang. Aber tatsächlich kümmerte mich die spießige Besorgtheit meiner Eltern schon nach wenigen Wochen keinen Deut mehr. Ich war ich. Hatte ich nicht das Recht auf Selbstverwirklichung – und wenn es nur die Selbstverwirklichung mit Hilfe des Klamotteninhalts aus dem furnierten Kleiderschrank der Fünfziger Jahre war?
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Zwei Wochen nach unserem ersten missglückten Entjungferungsversuch, wagten Hanna und ich es erneut. Diesmal im zwei Kilometer entfernten Gartenhäuschen des Kleingartens, als wir sicher sein konnten, dass mein Vater auf einem Sportfest war und auf dem Gartengelände nicht auftauchen würde. Mutter war keine Gefahr, sie mochte den Schrebergarten in jenen Jahren sowieso nicht mehr so wie früher. Denn jetzt, als wir Kinder groß waren und keinen „erweiterten Spielplatz“ mehr benötigten, bedeutete er ihr nur noch zu- sätzliche Arbeit. Und davon hatte sie wahrlich genug.
Wir hatten uns Decken und Getränke mitgebracht. Es war ein herrlicher Sommertag; Hanna trug nichts unter ihrem Minirock und ich nichts unter meinen Shorts. Und das war gewiss das falsche Omen, denn wieder passierte – nichts. Wieder ging es schief. Alles schien verbaut. Falsche Einfahrt. Da kam ich nicht durch. Wir waren frustriert. Ich holte Bier im nahegelegenen Wirtshaus. Doch weder Hanna noch ich vertrugen Bier. Bald schon hingen wir bei der sommerlichen Hitze erschlafft und todmüde in den Sonnenstühlen und schliefen unter dem halb lichten Kirschbaum den Schlaf der Gerechten. Und Unbefriedigten. Wir wachten mit Sonnenbrand auf. Ich glaube, dass wir uns aus purer Verzweiflung abermals in die Geschichte unserer Familien vertieften.
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Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Vater samt seiner Polizeieinheit in die Wehrmacht eingegliedert. Da war er dann bei den Feldjägern an der Ostfront. Das waren keine heiligen Jungs. Ob er inzwischen politisch „umgedreht“ war, konnte ich niemals in Erfahrung bringen. Ich nehme es an, denn der fanatische Nationalismus hatte einer breiten Volksmehrheit den klaren Verstand geraubt. Die Zeit bei der Militärpolizei muss bei ihm so schreckliche Eindrücke hinterlassen haben, dass er sie beharrlich totschwieg.
Noch schlimmer aber waren die Angehörigen der Waffen-SS. Mein Vater hasste sie. Nicht nur weil sie ihm in die berufsmäßige „polizeiliche“ – und in seine religiöse sowie moralische – Quere kamen. Sie brannten „ohne Kriegsgrund“ ganze Dörfer ab und erschossen die Dorfbewohner. Das waren Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. Die Waffen-SS, die ihnen, den auf militärischen Ehren eingeschworenen Soldaten, nicht geheuer war, war selbst für die abgebrühten Frontsoldaten eine unmoralische und gnadenlose Mörderbande.
Vater sagte einmal: „Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, mit welcher Brutalität, mit welchen Mordgelüsten diese Verbrecher von der Waffen-SS in Russland wüteten.“
Später sagte er einmal, er würde verstehen, wenn uns die Russen bis zum Sankt Nimmerleinstag hassen würden. Gottseidank bekam er jedoch noch mit, dass dies nicht der Fall war. Dafür mochte Otto seinen Schwager, meinen Onkel Karl, überhaupt nicht, denn der war ein hohes Tier bei der Waffen-SS gewesen.
„Was der für ein Gewissen hat, möchte ich gerne wissen! Wie der damit leben kann!“
Mehr erfuhr ich aber nicht. Nur meine Mutter bemerkte eines Tages, als es am Familientisch um das Thema Kriegsschuld ging, dass Onkel Karls Einheit in sehr böse Sachen verstrickt gewesen war. Wie ich heute weiß, scheute sie sich vor der ganzen schrecklichen Wahrheit. Das hätte womöglich auch das Bild von ihrer Schwester beschädigt.
Jedenfalls mochten sich Onkel Karl und mein Vater gegenseitig nicht. Für Karl war Otto ein kleiner nichtsnutziger sozialdemokratischer Beamter. Und für meinen Vater war sein Schwager