"Blutige Rochade". Thomas Helm
alle Beteiligten eine Zäsur dar.
War der Albtraum jetzt vorbei, für alle die Gelegenheit für einen Neuanfang gegeben?
Kapitel 1 - Die Abdrift
Berlin, Hauptstadt der DDR, 27.Oktober 1989
Theo Kappner schmiss die »Berliner Zeitung« wütend auf die Couch. »Es ist doch scheißegal, ob du die »Berliner« oder das »ND« liest. Wie schon immer steht in den Wurstblättern der gleiche Müll. Und das im altgewohnten Tonfall. Mann oh Mann! Wie lange wollen die sich noch derart präsentieren?«
In einen Bademantel gehüllt kam Lisa Kappner aus dem Bad ins Wohnzimmer. Sie nahm Theos Bierflasche vom Tisch und trank daraus einen Schluck. Lächelnd stellte sie die Flasche zurück und verschränkte die Arme unterm fülligen Busen. »Ich hab‘ dich gehört, Kappner. Du schreist ja laut genug. Aber wieso glaubst du, das die Journaille sich ändert? Nur, weil gestern in Dresden Hunderttausende durch die Straßen gezogen sind? Und diesmal nicht, wie vor zwanzig Tagen auf sie eingeprügelt wurde? Oder der Krenz mit Kohl in –konstruktiver Atmosphäre– telefoniert hat? Ich konnte die Zeitung nämlich vorhin auch lesen, bevor du sie dir eingekrallt hast. Darum gebe ich dir sogar Recht! Die lassen sich immer noch viel lieber über die 12. Tagung vom FDJ-Zentralrat aus. Denn dabei können sie auf die altgewohnten Formulierungen zurückgreifen. Und schwätzen zudem darüber, dass sich der Ministerrat Gedanken bereitet, wie bessere Waren in die Läden gelangen. Aber bei dem was das Land wirklich bewegt kommen sie ins Schwimmen.«
Kappner trank die Flasche leer. Er stellte sie neben den Sessel auf den Teppich, wobei sein Blick auf Lisa ruhte. Plötzlich überzog ein anzügliches Lächeln sein Gesicht.
»Was grinst du so spitz?«, gurrte seine Frau.
Er deutete wortlos nach unten, wo sich ihr Bademantel einen Spaltbreit geöffnet hatte.
»Na und?« Sie lachte leise. »Schwarze Strümpfe eben. Aus dem Exquisit! Und – ich bin frisch gebadet!«
»Uiiii! Das qualifiziert unseren Freitagabend aber gewaltig! Denn genau das brauche ich, wenn die mir schon das Wochenende versaut haben!« Kappner erhob sich rasch aus dem Sessel. »Gehe ich richtig in der Annahme, junge Frau, dass jetzt gevö …!« Mitten im Satz unterbrach er sich und lauschte ebenso wie Lisa.
Ihrer beider Aufmerksamkeit richtete sich auf die Wand zur Nachbarwohnung. Nur schwer zu überhören ertönte von nebenan das laute Geschrei des Nachbarn. Unterbrochen wurde es immer wieder vom aufheulenden Geflenne der Nachbarin. Dazwischen plärrten die beiden Kleinen.
Nachdem sie beide einen Augenblick gelauscht hatten, schüttelte Kappner den Kopf. »Scheiß dünne Wände in der Platte!« Fragend schaute er seine Frau an. »Ist der nur besoffen, oder haut der gerade die Isolde zusammen?«
»Der Balzer und –schlagen?« Lisa postierte sich auf der Sessellehne. Solcherart, dass ihr nunmehr freiliegender rechter Schenkel gut mit dem Strumpfsaum kontrastierte. Sie klang skeptisch. »Der ist doch beim Magistrat. Dazu noch altbewährter Genosse und Hausbuchführer!«
»Na und? Wieso sollte der seine Olle nicht verdreschen? Wie ’ne moralische Instanz hat der sich, wie ich ihn kenne noch nie aufgeführt. Oder?«
»Ich zieh‘ mir schnell was an«, entgegnete Lisa und sprang auf. »Wenn die Brüllerei nicht aufhört, geh ich rüber!« Sie verschwand im Schlafzimmer.
Kappner schaute ihr kurz hinterher, knurrte unwillig und schlurfte zur Wohnungstür.
Gerade als er die Hand auf die Klinke legte, drangen Geräusche durch die dünne Hartfaserplatte aus dem Treppenhaus herein. Die Tür der Nachbarwohnung wurde lautstark aufgeschlossen und krachte drüben im Wohnungsflur gegen die Wand.
Er öffnete rasch, trat einen Schritt nach vorn hielt aber im Türrahmen inne.
Sein Nachbar, Balzer, stand auf dem Treppenabsatz vor dem Fahrstuhl. In der Linken trug er einen Koffer. Mit der Rechten drückte er hektisch den Rufknopf des Lifts.
In der offenen Tür zur Nachbarwohnung lehnte Isolde Balzer. Von ihrer Stirn rann Blut mit Tränen vermischt übers angstvoll verzerrte Gesicht.
Die kleinen Mädchen zerrten am Hosenbein ihrer Mutter. Jetzt fast schon stimmlos und mit Rotzfahnen, die aus den Näschen liefen.
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«, brüllte Balzer mit einem Blick auf seine Frau und hieb mit der Faust wie wild gegen die Fahrstuhltür. »Ich hab dir gesagt, dass ihr mit mir kommt. Die nehmen uns alle auf!« Er stieß ein irres Kichern aus. »Aber du? Du entdeckst plötzlich deine Sesshaftigkeit! Scheiße! Wer von uns beiden wollte denn immer in die Alpen?« Er öffnete die Fahrstuhltüren, sprang in den Korb und hackte auf der Tastatur herum.
Durch das kleine Fenster erwischte Kappner noch einen letzten Blick auf den cholerischen Nachbarn. Dann verschwand der Lift in die Tiefe.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er plötzlich eine Bewegung. Auf dem abwärtigen Treppenabsatz standen die Wollmanns aus der Neunten. Konsterniert wirkend starrten sie zu ihm empor. »Keine Panik, Leute! Hier oben ist erst mal Sendpause!«, sagte er mit einer beruhigenden Handbewegung. »Wir kümmern uns um den Rest der Familie. Also besten Dank für eure Anteilnahme!«
Unterdessen hatte Lisa, sie trug jetzt einen Jogginganzug, die Nachbarin in ihren Arm geschlossen. »Komm, Isolde, wir gehen rein. Ich guck mir mal deinen Kopf an. Du blutest ja wie ’n Schwein!« Mit der freien Hand drängte sie die Gören vor sich her, in den Flur hinein. »Schließ bei uns ab, Theo, der Schlüssel steckt!«, sagte sie über die Schulter. »Und dann komm hier herein.«
Kappner folgte den Anweisungen seiner Frau. Daraufhin schaute er, ob die Wollmanns abgetaucht waren. Dafür ging eine halbe Treppe hinab.
Vom Flurfenster aus entdeckte er Balzer unten auf dem Parkplatz. Der warf soeben den Koffer in seinen »Dacia«, der neben Kappners »Wartburg« stand. Nach einem flüchtigen Blick nach oben schwang er sich in seinen Wagen und verschwand damit in der Dunkelheit.
Kopfschüttelnd stieg Kappner die Stufen empor und betrat die Nachbarwohnung. Bereits im Flur sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Balzer hatte wahrlich alles durchwühlt, um die Koffer zu füllen. Von denen noch zwei neben der Küche standen.
Lisa verband soeben Isoldes Kopf, als Kappner das Wohnzimmer betrat.
In ihrer Spielecke hockten eng aneinander gekuschelt die beiden Mädchen. Auch hier worden die Schubladen und Schranktüren geöffnet.
Auf dem Fernseher lief die Tagesschau, der Ton kaum hörbar. So bekam Kappner gerade noch das Wort »Generalamnestie« mit.
»Sie will nicht zum Arzt!«, sagte Lisa an ihren Mann gewandt. »Es sind auch nur zwei kleine Platzwunden. Die hat sie sich dort an der Schrankecke geholt. Hab sie verpflastert. Für die Veilchen an beiden Augen kann sie sich nur mit Kühlung behelfen. Da muss das Arschgesicht ganz schön zugehauen haben!« Sie deutete mit dem Kopf zur Zimmertür. »Hol mal bitte einen kalten Waschlappen aus dem Bad!«
Dort stellte Kappner auf einen Blick fest, das alle Utensilien für den Mann auf der Konsole fehlten. Er kühlte einen bunten Waschfleck mit Wasser, das er lange laufen lassen musste.
Zurück im Wohnzimmer setzte er sich neben die Nachbarin und drückte ihr den kalten Lappen in die Hand. »Sag an, Isolde! Was war los bei euch? Wieso knallt dein Alter so durch und macht sich im Finsteren alleine vom Acker?«
Statt einer Antwort deutete sie, den Fleck ans rechte Auge gepresst, hinüber zu einem Schrankwandteil. »Lisa, bitte sei lieb. Dort drin stehen der Schnaps und auch die Gläser.«
Lisa erhob sich, holte eine Flasche »Goldkrone« und zwei Schnapsgläser aus dem Schrank. »Kannst gerne mit Theo einen trinken. Ich bleib dabei außen vor!«, sagte sie und füllte die Gläser.
Isolde stieß mit Kappner an. Sie trank und zog die Nase hoch. »Verdammt hat der zugehauen«, murmelte sie und verzog das Gesicht.