"Blutige Rochade". Thomas Helm
uns bleibt noch Zeit. Los! Wir setzen uns nach oben, in diese »Tagesbar«. Da können wir reden«
Sie stiegen über die breite Treppe hoch zur Empore und gingen durch die linker Hand gelegene Eingangstür in die Bar. Dort platzierten sie sich selbst an einen der Tische am Ende der langen Fensterfront. Von hier aus konnte man fast die ganze Bahnhofshalle überblicken.
Sie ließen sich in die Sessel fallen. Aufmerksam schauten sie sich im Gastraum um. Nur eine Handvoll Gäste hockten, in der Nähe des Bartresens, in den schwelgenden Polstern.
»Derzeit scheint jeder sein Geld krampfhaft festzuhalten. Um möglichst wenig davon auszugeben«, sagte Bruhns leise.
»Was bei den Preisen, die sie von uns für die vielen, neuen Waren aus dem Westen kassieren wollen auch kein Wunder ist!« Bauerfeind klang knurrig, wobei er durch die Glasfront in die Halle hinabdeutete.
Dort auf den freien Flächen sowie an den Eingängen herrschte Gedränge. Zumeist schwarzhaarige Händler hatten auf Tapeziertischen ihre Artikel ausgebreitet.
Auf sich durchbiegenden Sperrholzplatten bot man bunte, illustrierte Zeitschriften und Tageszeitungen aus dem Westen an. Ebenso Bananen, Orangen. Auch anderes Obst, das man bisher im Osten nur selten oder noch gar nicht kaufen konnte.
Bruhns schüttelte den Kopf und verzog angewidert das Gesicht. »Mann! Wenn ich diesen bunten Schund sehe, den sie uns jetzt überall andrehen wollen, wird mir schlecht! Wo soll das denn nur hinführen?« Er brannte sich eine Zigarette an, nachdem Bauerfeind die ihm entgegen gestreckte Schachtel dankend abgelehnt hatte. »Ich durfte seit Oktober letzten Jahres daheim hocken«, sagte er. »Nur herumgesessen habe ich. Und mir angeschaut, wie sie uns nach und nach platt machen!« Harsch winkte er ab, pustete den Rauch zur Seite. »Doch jetzt mal zu dir, Frank! Wo hast du bis heute gesteckt?«
Bauerfeind setzte zu einer Antwort an.
Da jedoch schlurfte eine Serviererin, mittleren Alters, an den Tisch heran. Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck fragte sie nach ihren Wünschen. Dabei fingerte sie einen Kellnerblock aus ihrer weinroten, offenen Weste, aus der eine üppig gefüllte, weiße Bluse quoll.
»Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee«, sagte Bauerfeind im verbindlichen Tonfall.
Ihr Blick irrte hinab in die Bahnhofshalle. »Kännchen is’ nicht. Gibt’s nicht mehr. War einmal. Entweder ’n Pott oder ’ne Tasse!«, lautete die flapsige Antwort.
Bauerfeind entschied sich kopfschüttelnd für den Pott. Bruhns schloss sich dem an.
»Seit Ende September habe ich daheim herumgesessen, genau wie du. Durfte auf den Anruf warten«, nahm Bauerfeind das Gespräch erneut auf, nachdem sich die Servierkraft hinwegbewegt hatte. »Was glaubst du denn, was sie mit uns vorhaben? Jetzt, wo nacheinander die Bezirksverwaltungen ausgeräumt wurden? Ich jedenfalls sehe für diese »Zentrale« kaum ’ne Chancen für ‘n Weiterbestehen. Du etwa?«
Bruhns schüttelte nachdenklich den Kopf. Er drückte die Kippe in einem Aschbecher aus, der einen bunten Werbeaufdruck trug. »Ich vermute mal, wir sollen dort bei irgendwas helfen. Wohl, um zu retten, was zu retten ist. Aber warten wir’s ab. Schließlich befinden wir uns immer noch im aktiven Dienst! Darum ist dein Pessimismus eventuell fehl am Platz!«
Weil die Serviererin soeben mit dem Kaffee an den Tisch zurückkam, wurden die Männer für einen Moment abgelenkt. Wortlos servierte sie die Bestellung, um sich daraufhin langsam wieder in Richtung Büfett zu entfernen.
Bruhns starrte lächelnd auf ihr eindrucksvolles Hinterteil und die strammen Waden.
Bauerfeind, der dies bemerkte, hob die Brauen. »Stehst du auf den Typ Frau? Dicke Titten und breiten Arsch?«
Ein schiefes Grinsen überflog Bruhns Gesicht. Dann schnupperte er an seinem dampfenden Pott. »Der Kaffee ist auch schon aus dem Westen. »Mocca-Fix« ist das hier nicht!«, knurrte er.
Bauerfeind nahm eine bunte, gelackte Angebotskarte vom Tisch. Auf ihr prangte groß der Firmenname eines Bremer Kaffeerösters. Mit der Karte deutete er auf den gleichen Schriftzug, der gleichermaßen die Kaffeepötte zierte. »Die Westfirmen können sich offensichtlich ratzfatz bei uns einkaufen. Ich nehme an, das betrifft nicht nur die Gastronomie! Wird wohl bald mit allen anderen Dingen auch so sein.«
Schweigend tranken sie ihren Kaffee.
Bis sich Bauerfeind laut räusperte. Einem aufblitzenden Gedanken folgend tippte er sein Gegenüber mit dem Finger an. »Sag’ mal, Kolja! Wir konnten uns ja seit Sechsundachtzig nicht mehr persönlich treffen. Wie war das noch? Bist du damals nicht auch in Prokowski im Einsatz gewesen?«
Bruhns warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Nach kurzem Zögern nickte er zustimmend. »Ja, – das war ich. Warum fragst du?«
Jetzt nutzte Bauerfeind die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. »Erinnerst du dich eventuell an einen Vorgang, der um die Faschingszeit Sechsundachtzig herum passierte? Ich meine, als in eurem Wohnlager ein junger Maschinist vom –Linearen Teil– zu Tode gekommen ist?« Bruhns riss überrascht die Augen auf. »Fasching? Im Jahre Sechsundachtzig? Mann, oh Mann, – da musste ich mich mit anderen Sachen beschäftigen! Das weiß ich noch. Ein Toter beim LT sagst du?« Er schüttelte den Kopf. Einen langen Augenblick schien er nachzudenken, wobei er hinab in die Bahnhofshalle starrte. Bauerfeind wollte ihn soeben erneut ansprechen, als Bruhns aufschaute. »LT? Ja, mir fällt ’s wieder ein. Da hatte sich ein junger Kollege erhängt. Dass jedenfalls galt als die offizielle Version. Ich kann’ mich noch erinnern, weil es an Fasching passierte.« Einen Moment stockte er. »Aber warum interessiert dich das?«, fragte er, wobei er den Kopf etwas zur Seite neigte. Ein misstrauischer Unterton schwang in seiner Stimme mit. Seine Finger zitterten leicht, als er die Kippe im Ascher austupfte.
Bauerfeind, der dies nicht bemerkte, legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm. Er drückte heftig zu, sein Gesicht rötete sich.
Bruhns wich zurück, soweit es die Sessellehne zuließ. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt starrte er sein Gegenüber an.
»Weil der, der sich damals erhängte, mein kleiner Bruder gewesen ist! «, zischte Bauerfeind.
Bruhns registriert erleichtert, dass sich der Griff lockerte und die Hand von seinem Arm glitt.
Beide schwiegen eine Weile. Aus der Halle drangen halblaut die Zugansagen herein. Von oben, von der Decke her, ertönte leise Musik.
Schließlich stieß Bruhns hörbar den Atem aus, fuhr sich mit den Fingern durchs kurze Haar. »Mann, so eine Scheiße aber auch! Das – war dein Bruder?«
Bauerfeind nickte bedeutungsvoll und beugte sich zu ihm hin. »Los Kolja! Erzähl’ mir, was du darüber weißt!«
Bruhns nahm hastig einen Schluck Kaffee, brannte sich danach eine weitere »Semper« an. »Ich weiß eigentlich davon nicht viel. Weil für mich, entschuldige bitte, zu dieser Zeit das alles nicht von Belang gewesen ist «, entgegnete er und zuckte die Schultern. »Mich beschäftigten damals ganz andere Dinge!« Er zog an der Zigarette, blies den Rauch zur Decke. »Also gut. Man sagte, der Junge hätte sich zuerst besoffen und späterhin aufgehängt. Angeblich aus Heimweh. Zum Erhängen nahm er wohl einen Trassenschal. Einen von diesen blauen Wollschals meine ich. Die kennst du doch?«
Bauerfeind schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein, in der Ukraine gab’s die nicht. Aber rede schon! Was weißt du ansonsten noch von der Sache?«
Bruhns pustete wieder den Rauch zur Decke und fixierte daraufhin sein Gegenüber. »Nun ja. Im Wohnlager kursierte damals seit längerer Zeit irgendeine Scheißhausparole. Dass der Chef von der DSF auch eine Aktie dran gehabt hätte. Der wäre wohl schwul gewesen. Hat sich angeblich an den Jungen rangemacht!« Er hob mit einer abwehrenden Geste die Hand, weil Bauerfeind die Augen überrascht aufriss. »Aber, wie gesagt, das waren alles nur Gerüchte. Die konnte oder wollte keiner belegen. Obwohl ich noch eines weiß! Der Fettsack von der DSF verschwand ein paar Wochen später vom Bauabschnitt. Quasi über Nacht! Kurz danach ist ein neuer eingereist. Mit Ehefrau. Der hat von da ab den DSF-Dödel gegeben.« Er trank von seinem Kaffee. Nach einem raschen Blick auf die anderen