MONO - 1. Akt: Der Köder. Michael Nolden
Keutner reichte sie ihm wortlos. Sie schwang den Kopf, um ihr in einem honigblonden Ton gefärbtes Haar zu lockern. Wie immer in den vergangenen Jahren, da sie zu diesem zwischenmenschlichen Kommunikationsinstrument gegriffen hatte, erfuhr sie von Atlas keinerlei Reaktion. Ihre Enttäuschung beschränkte sich auf ein Minimum. Einmal hatte er ihr ein Foto seiner Frau Monica gezeigt und seither wusste sie, wieso er nicht auf ihre Annäherungsversuche ansprang. Das war allerdings noch lange kein Grund, Flirtversuche vollends aufzugeben. Sie beugte sich leicht nach vorne, in einem genau geprobten Winkel und präsentierte genauso viel von ihrem Dekolleté, wie es ihrer Ansicht nach ausreichen sollte, um selbst einen desinteressierten Mann in hormonelle Kopflosigkeit zu stürzen.
»Ja, danke. Danke sehr.«
In seinem hageren Gesicht war keine sexuelle Neugier abzulesen, eher meinte Klara Keutner Wehmut zu entdecken, nahe am Ausdruck der Ablehnung, und das war kein Gefühl, das eine Frau wie sie in einem Mann gespiegelt sehen wollte. Reine Gleichgültigkeit wäre ihr allemal lieber gewesen. »Schade, dass du gehst«, stellte sie schlicht fest und gab ihre nutzlosen Avancen auf.
»Tja«, sagte Atlas, weil er nichts anderes zu erwidern wusste. Ihm tat es selbst leid, einen sicheren Lebensabschnitt hinter sich zu lassen und seiner Frau in die Ungewissheit zu folgen. Aber Tonio Atlas hatte seiner Monica ein Versprechen gegeben, und er war so erzogen worden, dass ein einmal gegebenes Versprechen so treu auszuführen und fest zu halten sei wie das berühmte Amen in der Kirche. »Diese Tage«, rang er sich den Beginn einer Erklärung ab und endete sofort, denn weitere Worte entglitten ihm im Wust seiner Empfindungen, die keine rechte Linie finden wollten.
»Ich weiß, was du meinst.« Echtes Bedauern klang aus ihrem Tonfall.
Dankbar nickte Tonio Atlas der Sekretärin zu. »Danke. Klara«, fügte er schnell hintan.
Klara Keutner lächelte tapfer mit starren Augen. Je mehr sie über diesen Mann mit dem traurigen Blick nachdachte, umso mehr erkannte sie, wie sehr sie seine Begegnung vermissen würde.
»Auf Wiedersehen.« Atlas gab ihr über den Tresen hinweg die Hand.
Nach einem zu langen Zögern, resultierend aus dem Wissen um die Überwachungskameras, ergriff Klara Keutner die dargebotene Hand, erwiderte den Druck ähnlich behutsam, wie er ihr entgegengebracht wurde. »Auf Wiedersehen, Tonio. Alles Gute. Meine ich so.«
Ein Ruck ging durch die Haltung des Gießers. In diesem Augenblick waren ihm seine hängenden Schultern aufgefallen. Sein Beruf hatte ihm über die Jahre hinweg durchtrainierte Muskeln beschert. Wenn er sein Rückgrat jedoch krümmte, der Kopf wie auf einem gebogenen Geierhals saß, wirkte Tonio Atlas wie der sprichwörtliche Schluck Wasser, der sich selbst als Ziel auserkor. Halbstarke hatten mehrmals versucht, ihn aufzumischen. Langer Lulatsch! Langes Elend! Ihre Ausrufe waren zugegebenermaßen fantasielos. Doch sie hofften natürlich, ihr Spott werde ihn aus der Reserve locken. Reagierte er nicht, fielen ihre Attacken handfester aus. Wie überrascht waren sie doch, wenn sie die von ihm ausgeteilten und sehr treffsicheren Antworten erhielten. Die Blutergüsse seiner Backpfeifen trugen sie noch Tage später zur Schau, zuerst verschämt, dann stolz, als handele es sich um Kriegsverletzungen. Aus einem unerfindlichen Grund heraus wollte er Klara Keutner nicht als nachlässig auftretende Erscheinung in Erinnerung bleiben. »Alles Gute«, sagte er, ließ sie los und drehte sich zur Tür um.
»Dein Firmenausweis!« Härter ausgesprochen als gewollt, schallte der Ausruf einer Ohrfeige gleich durch das Büro.
Tonio Atlas' erste Reaktion war ein heruntergeschlucktes »Oh?!«, gefolgt von einem verstohlenen Blick zu der sichtbaren Überwachungskamera, deren einziges Lebenszeichen das Blinken eines roten LED-Lichtes war.
Am Tag der Installation einer ganzen Armada von Sicherheitstechnik quer über die gesamte Gießerei hinweg, nur wenige Tage bevor die Einschmelzung der religiösen Symbole anlief, waren noch Witze über das unregelmäßige Aufleuchten der Kameraapparaturen gemacht worden. Den Mitarbeitern war in den folgenden Wochen das Lachen und Feixen vergangen, so auch Tonio Atlas, der versuchte, seinen Verfolgungswahn abzuschütteln und sich bewusst in ein verbogenes Gummimännchen verwandelte, von dem er annahm, es lasse ihn zwischen den Arbeitskollegen sichtlich untertauchen. Nur war es von ihm ein Trugschluss zu glauben, jemand mit einer Größe von 1,90 Meter sei wirklich unauffällig.
»Natürlich.« Seine Stimmlage geriet zu einem Nuscheln. Er nestelte das kreditkartengroße Dokument aus der Tasche, wandte sich auf dem Fuße um, machte den Arm lang und legte den Ausweis auf den Stahltresen. Ein flappender Laut ertönte, als habe er eine Spielkarte auf die metallene Oberfläche geschnippt. Atlas zuckte entschuldigend mit den breiten Schultern. »Die brauch ich natürlich nicht mehr.«
»Natürlich«, erwiderte Karla Keutner, und die Freundlichkeit im Gesicht der Sekretärin war allenfalls noch vage zu nennen.
»Also, dann.«
»Alles Gute.«
Es spielte keine Rolle, wer von ihnen beiden was gesagt hatte. Die Peinlichkeit zum Schluss, die hierdurch aufgepumpte, eben noch unterschwellige Angst hatten den kleinen Funken Zuneigung zunichte gemacht.
Tonio Atlas ließ die Bürotür hinter sich zufallen und atmete befreit auf.
Von seinen fünfunddreißig Lebensjahren hatte er fünfzehn als Gießer gearbeitet, zehn davon am Standort in Kleinschwetzingen, der vor einem Jahr hätte geschlossen werden sollen, wäre nicht festgestellt worden, dass die Kapazitäten landesweit nicht ausreichten, um der Vernichtung religiöser Symbole aus Metall im von Regierungsseite geforderten Zeitrahmen nachzukommen. Atlas hatte das zusätzliche Jahr genutzt, damit er seine Gefühle in dieser Zeit des Umbruchs besser zu begreifen lernte. Er selbst war italienisch-maltesischer Abstammung. Seine Mutter kam aus dem Inselstaat Malta, genauer gesagt aus Victoria auf der Insel Gozo, während sein Vater in Neapel auf dem italienischen Stiefel geboren war. Die Eltern hatten sich auf Sizilien in den Ferien kennengelernt und waren gegen Ende der 1980er Jahre nach Deutschland ausgewandert, pünktlich zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die Arbeitsmöglichkeiten für fleißige Menschen in dieser Aufbauphase erschienen ihnen damals verlockend genug, um die Heimat hinter sich zu lassen. Nach wenigen Jahren im neuen Osten des Landes zogen die Atlas' in den alten Westen nach Baden-Württemberg. 1992 kam Antonio Maria Giovanni Atlante, kurz Tonio zur Welt. Weil sie sich ihrer deutschen Umgebung enger zuwenden wollten, beantragte Tonios Vater einige Jahre darauf nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern gleichzeitig eine Namensänderung von Atlante in Atlas. Deutsche Freunde beschrieben die Familie Atlas in jeder Hinsicht als vorbildlich.
Vater und Mutter Atlas waren stark im Katholizismus verhaftet, Tonio selbst, obwohl er sämtliche Zeremonien und Feiertage über das Jahr hinweg mit den Eltern, Verwandten, Freunden, Gemeindemitgliedern und Nachbarn teilte, bezeichnete sich als christlichen Mitläufer, der all das eben tat, was seine Eltern ihm in dieser Hinsicht vorlebten und vorbeteten, weil es offensichtlich zu jemandem mit seinen Wurzeln dazu gehörte, und die Annahme dieser Strukturen einfach bequem war.
Seine Frau Monica lernte er über die Gemeinde kennen. Ihre italienische Familie betrieb ein Eiscafé in einer Fußgängerzone in Tübingen. Monica war eine ziemlich gläubige Katholikin, so empfand es jedenfalls Tonio, der ein schlechtes Gewissen in sich wachsen fühlte, da jemand seines Alters sich derart zu christlichen Glaubensidealen und Prozeduren hingezogen fühlte.
Nun, so viele Jahre später, verstand er instinktiv Monicas Entschluss, ihrem Glauben nicht abzuschwören und Deutschland den Rücken zu kehren. Monatelang hatten sie die Auswanderung nach Malta geplant. Italien, was ihnen lieber gewesen wäre, hatte zwar anfänglich mit der Aufnahme ausreisewilliger Christen geworben, sah sich jedoch nach einer wahren Flut von Katholiken dazu gezwungen, dem Strom der Einwanderer Einhalt zu gebieten und einen Einreisestopp zu verhängen, der sogar militärisch streng kontrolliert wurde. Malta hingegen setzte auf Verwandte von Einheimischen und hielt so die Zahl derer, die in den naturgemäß eng begrenzten Raum des Inselstaates einreisen wollten, klein. Tonios Mutter hatte die Anträge ausgefüllt und nun stand dem Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr im Weg. Die Macht der Gewohnheit trieb Tonio, sich zum Arbeitsplatz zu begeben. Er blieb stehen. Unschlüssig verharrte er auf