MONO - 1. Akt: Der Köder. Michael Nolden
Atlas' Amüsement. »Ha!«, entschlüpfte es ihm unbeherrscht. Eine Sekunde später hatte er sich wieder im Griff. »Na, gut, Herr Atlas. Wenn ich Sie weder heute, noch in der folgenden Zeit auf dem Werksgelände sehe, dann«, Feldwebel Kaplan flocht eine bedeutungsschwere Pause ein, zigfach im Kommunikationstraining für diesen Einsatz durchexerziert, »belassen wir es dabei. Alles Gute für Ihre Zukunft.« Der deutsche Unteroffizier mit den türkischstämmigen Wurzeln winkte dem Gefreiten, der ihn begleitet hatte, ihm zurück zum Tor zu folgen.
Von seinen Eltern hatte Tonio Atlas Anteile der anderen Sprachen gelernt. Ein Repertoire an italienischen Worten half im Urlaub und ebenfalls beim Kennenlernen seiner Frau und, noch viel wichtiger, seiner zukünftigen Schwiegereltern. Malti, die Sprache seiner Mutter, beherrschte er weitaus besser. Zwar war es die Sprache, die ihn in der Welt am wenigsten weiter brachte, auf Malta jedoch nützte sie am meisten. Englisch war dort die offizielle Amtssprache, Malti, eine Mixtur aus italienischen und arabischen Klängen, schloss hingegen das zwischenmenschliche Band der Inselbewohner enger. Deutsch, die Sprache der Dichter und Denker, war, obwohl damit aufgewachsen und am besten gesprochen, oft eine Hürde, eine hohe Mauer im Miteinander, die auf der Zunge begann. Der Soldat hatte ihm alles Gute für die Zukunft gewünscht, dennoch hatte es für Tonio Atlas nicht wie die übliche Floskel geklungen. Der Verabschiedung war der Beigeschmack eines Fluches beigemischt gewesen.
Sobald die Soldaten außer Hörweite waren, setzte sich Xaver Schütten erneut seinen gelben Schutzhelm auf den Kopf. »Wichtigtuer«, sagte er.
»Nimm dich in Acht«, warnte Tonio Atlas mit Blick auf die nagelneuen Sturmgewehre der Reservisten, an deren Tarnuniformen selbst auf gut dreißig Meter Entfernung noch Bügelfalten zu erkennen waren. Der Rasterdruck ihres Camouflagemusters half nicht, den Eindruck von Sonntagskriegern zu mildern. Die ungelenken Gestalten, ungeübt in echten Einsätzen, waren für Atlas die Staffage einer operettenhaften Inszenierung, trotzdem oder gerade deshalb machten ihre nervösen Griffe um die Schulterstützen und den Handschutz am Lauf der Gewehre ihn unruhig.
»Muss ich nicht«, bekräftigte Schütten grimmig mit zu offensichtlichem Misstrauen verzogenen Augenbrauen. »Noch ein letztes Gucken? Noch mal eben in die Halle linsen? Außerdem«, erklärte Schütten weiter, »würd's die da ärgern. Na? Komm schon.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Vorarbeiter voran.
Tonio Atlas folgte, langsam zunächst, alsbald schneller, bis er gleichauf mit dem Berufskollegen schritt. Der Weg war allzu kurz. Xaver Schütten blieb schließlich stehen, wischte seine von Ruß verschmutzte und verschwitzte Hand an der Schutzkleidung, auf Brusthöhe, ab, reichte sie Atlas und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Schütten sandte der Berührung ein freudloses Schnaufen hinterdrein. Geredet hatten sie genug. Der Lärm des soeben vorbei fahrenden Lastwagens hätte ohnehin jedes zusätzliche Wort verschluckt. Schütten ging in die Halle hinein und tauchte in einem Nebenarm des Gebäudes zwischen unbenutzten Hochregalen unter. Scheu und ausgeschlossen schaute Atlas ihm nach.
Der Krach aus der Eins – Halle Eins sagten die Chefs, nicht die Arbeiter – wurde an hektischen Tagen gerne im Verbund mit den Kollegen verabscheut. In diesem Moment war die Geräuschkulisse tröstlich. Atlas würde sie nicht ständig vermissen, wenn er das Werksgelände hinter sich ließe, so viel war sicher. Hin und wieder allerdings, das ahnte er mit einer bleiernen Traurigkeit, würde der Lärm fehlen. Oft hatte das Getöse gestört. Zeitweilig deckte es aber auch die Sorgen des Alltags zu, jene, denen sich Atlas nicht stellen wollte. Nun konnte er sich nicht mehr mit der aus einer Acht-Stunden-Schicht resultierenden Taubheit herausreden.
Das improvisierte Förderband rechts von ihm ratterte. Ein mahlendes Geräusch ertönte, ein zerfetzt klingendes Knattern in rasch aufeinanderfolgenden Sekundenbruchteilen, sodann jaulte die strapazierte Maschinerie auf, ruckelte bockig, ehe sie den weiteren Dienst versagte und mit einem endgültigen Knirschen stehen blieb. Ein paar kleinere Metallteile sprangen über die niedrige Umrandung der Konstruktion. Scheppernd polterten sie über den Betonboden. Atlas erkannte die üblichen Formen, wie sie in den letzten Monaten zu Abertausenden in die Schmelzöfen gefallen waren. Gesammelt aus den Besitztümern von Menschen, die ihrem Glauben abgeschworen hatten. Von den Dächern und Türmen, den Eingängen, Türen religiöser Häuser entfernt. Von Friedhöfen, von jedwedem Grab. Ganz gleich wie alt. Aus dem Leben der Menschen verbannt. Von Schmuck. Anhänger, Ohrstecker und Ringe, wirtschaftlich nach Metallen sortiert. Gold und Silber, Bronze und Kupfer, ganz selten Platin wurden in zu diesem Zweck aufgerüsteten staatlichen Münzanstalten aufbereitet. Lediglich als besonders historisch wertvoll eingestufte Objekte blieben nach den neuen Richtlinien verschont.
Ein fein gepunztes, blank poliertes Kreuz, kaum größer als einer der Anhänger, aus der Vertiefung eines Grabsteines herausgebrochen, blitzte im Licht der Neonröhren. Ein einzelner echter Lichtstrahl traf das Kleinod von der Halleneinfahrt her und reflektierte von dort stechend in die Augen von Tonio Atlas, der die Feuchtigkeit an seinen Lidern fühlte. Halbmonde. Davidssterne. Kreuze. Buddhafiguren sogar, deren mitfühlendes Lächeln sich in jeder der metallenen Flächen vervielfachte.
Zwei Gießer kamen fluchend vom anderen Ende des Gebäudes her angerannt. Es war ein seit Monaten bekanntes Problem. Besonders die kleineren der religiösen Symbole verfingen sich im Förderband. Manchmal fiel eine Transporteinheit über Stunden aus, so dass die Lastkraftwagen weit in die Werkshalle hinein fuhren und die Metallgüter vor den Schmelzöfen deponierten, von wo sie umständlich, Teil für Teil, teils mit Spaten, teils von Hand, einzeln, mithin zu dritt in das flüssige Inferno des Hochofens geschmissen wurden.
Ein Schaudern durchlief Atlas, als er sah, wie die anderen beiden Männer in ihren feuerfesten Monturen, deren Kopfbedeckungen sie der besseren Sicht wegen abgenommen hatten, die Metallteile am Boden achtlos zur Seite traten. Wütend kniete sich der zuvorderst stehende Gießer hin und schaute von unten in das Kettengetriebe des Transportbandes, bis er die verbogene Form eines rund dreißig Zentimeter langen vierbalkigen orthodoxen Kreuzes entdeckte, das in die Mechanik geraten war und offensichtlich etwas herausgebrochen hatte. Die Flüche des Mannes waren nicht laut ausgesprochen und kaum zu verstehen, über ihre Bedeutung indes kamen bei Tonio Atlas keine Missverständnisse auf.
Er horchte. Die verärgerte Litanei des Arbeiters ging in einem allzu bekannten Signalton unter. In den letzten Wochen war er häufiger erklungen. Tonio Atlas wartete nicht auf den wie gewohnt nachfolgenden Alarm aus seinem Mobiltelefon und zog das Gerät aus der Innentasche seines Jacketts. Kaum hielt er es in Händen, fiepte der Warnhinweis einer seit Jahren aktiven App. »2D«, Abkürzung für »TOO DANGEROUS«, war von mehreren europäischen Heimatministerien gemeinsam entwickelt worden. Wer sich in der antireligiösen Zweckgemeinschaft bewegte, lud das Alarmprogramm automatisch herunter. Wer sich dieser Prozedur verweigerte, dem blieb der Netzzugang verwehrt. Es verstrich die Dauer eines Wimpernschlages, und in Halle Eins begannen die gelben Warnleuchten an den lediglich per Leiter zugänglichen Decken zu rotieren, synchron zur ansteigenden Lautstärke des Alarmsignals.
»2D« kündigte eine terroristische Bedrohung in Baden-Württemberg an, die Wahrscheinlichkeit eines Anschlages noch an diesem Tag war hoch. Auf einer Farbskala blinkte das drittletzte rote Quadrat. Das bedeutete: Meiden Sie öffentliche Gebäude. Meiden Sie größere Menschenansammlungen. Besuchen Sie keine Vergnügungs- oder Einkaufszentren, keine kulturellen Veranstaltungen. Bleiben Sie, falls möglich, daheim. Begegnen Sie Sicherheitskräften, leisten Sie den Anweisungen unbedingt Folge. Lassen Sie durch Ihr Handeln keine widersprüchlichen Einschätzungen entstehen, die entschlossenes Vorgehen seitens der Sicherheitskräfte notwendig erscheinen lassen und Sie unnötig in Gefahr bringen ...
Hinter sich spürte Atlas eine Bewegung. Die zwei Soldaten von vorhin hatten in wenigen Metern Abstand Aufstellung bezogen. »Ich muss Sie nun dringend bitten, das Werk zu verlassen«, befahl Feldwebel Kaplan mit einem rudimentären Lächeln.
Sein Gegenüber in Zivil murmelte ein »Ja, sofort«, in der Kakophonie der widerstreitenden Geräusche einzig an den Lippenbewegungen erkennbar. Tonio Atlas rückte seinen Anzug zurecht, der sich gegen die Bewegungen seines Besitzers grundsätzlich sträubte, dessen Ärmel hochrutschten und im Schritt unbequem war. Es war kaum der rechte Zeitpunkt für Peinlichkeit, so fischte er im Geiste nach Selbstvertrauen, fand hier und dort etwas und bezwang mit diesen Bruchteilen seiner inneren Stärke seine Unsicherheit in der ungewohnten