Die Superaugen ... und der Schuhdieb. Heidi Troi
das Weltall austauschen kann, ist ihr Bruder schon glücklich. Sie will sich gerade wieder ihrer Banknachbarin zuwenden und erkunden, ob es auch etwas gibt, das sie beide gemeinsam haben, da schreit einer schräg gegenüber von ihr:
„Seht mal – alle Superaugen in einer Reihe!“ Der Junge mit den blonden Stoppelhaaren kugelt sich vor Lachen.
Ulli sieht sich um. Der Junge hat recht. Nicht nur ihr Bruder und sie selbst tragen eine Brille. Auch Djamila hat eine und auf Tims Nase sitzt ein riesiges knallgrünes Ding.
Die Lehrerin holt eben Luft, um etwas zu sagen, aber Ulli kommt ihr zuvor. Wütend steht sie auf, beugt sich vor und stützt ihre Hände auf der Bank auf.
„Superaugen? Ich geb dir gleich was auf deine Augen, dann kannst du dich zu uns setzen, wenn du das unbedingt möchtest!“ Sie funkelt den Kerl herausfordernd an.
Dem friert das Lachen auf dem Gesicht ein. „Ich mein ja nur“, stammelt er unsicher.
„Ich mein auch nur.“ Ulli setzt sich wieder hin. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals, so sehr ärgert sie sich.
„Freddie, das war jetzt nicht sehr nett“, sagt die Lehrerin streng zu dem Stoppelkopf.
„Nett …“, faucht Ulli.
„Wir können auch korrekt sagen, wenn dir das besser gefällt, liebe Ulrike. Auch dein Verhalten finde ich nämlich nicht besonders korrekt.“
Ulli fühlt, wie ihre Wangen heiß werden. Das hat sie ja wieder fein hingekriegt. Mit schuldbewusst gesenktem Gesicht meint sie: „Ich weiß. Entschuldigung.“
„Das klingt schon besser. Freddie, ich warte.“ Die Lehrerin schaut streng zu dem Jungen hinüber.
„Tut mir leid“, murmelt auch der, aber an dem Blick, den er Ulli zuschießt, erkennt sie, dass es ihm überhaupt nicht leidtut.
Während des Unterrichts hat sie Zeit, ihre neuen Mitschüler und Mitschülerinnen zu mustern. Ihr Blick fällt auf einen Jungen, der gar nicht weit weg von diesem Freddie sitzt. Es ist Maximilian, der gestern mit ihnen im Lift hochgefahren ist. Ulli stößt ihren Bruder an.
„Schau mal, da drüben: Maximilian!“
Olli folgt ihrem Blick, sieht den Jungen, der in diesem Moment zu ihnen herüberschaut. Er lächelt wieder, sieht zu Freddie hinüber und verdreht die Augen.
„Der geht in die Vierte?“, flüstert Olli und es ist nur natürlich, dass er sich wundert. Dieser Maximilian sitzt an einer Bank für Zweitklässler und er sieht noch kleiner aus, weil neben ihm das vermutlich größte Mädchen der Klasse sitzt.
„Vielleicht hat er eine Klasse übersprungen?“, vermutet Ulli und sieht, dass ihr Bruder den Jungen gleich mit noch größerem Interesse mustert. Ulli grinst in sich hinein. Ihr Bruder, der irgendwann einmal den Nobelpreis in Physik gewinnen möchte, hat was übrig für Kinder, die gern lernen. In ihrer Dorfschule hatte Olli niemanden gefunden, der mit ihm den Abendhimmel studieren oder Bakterien im Mikroskop anschauen wollte. Vielleicht ist dieser Maximilian ja endlich ein Freund nach seinem Geschmack. Ulli wünscht es ihm.
Während die Lehrerin irgendwas von den vier Fällen erzählt, lässt sie ihren Blick weiter über die Bänke schweifen, die in Hufeisenform angeordnet sind. Sie zählt achtzehn Kinder – viel mehr als in ihrer alten Dorfschule. Und das ist die 4d! Das bedeutet, dass es an dieser Schule noch eine 4a, eine 4b und eine 4c geben muss. Mindestens.
Sie beugt sich zu Djamila hinüber. „Wie viele vierte Klassen gibt es eigentlich an eurer Schule?“, fragt sie.
„Fünf“, sagt Djamila.
Ulli macht große Augen. „So viele Kinder!“
Djamila lächelt. „An deiner alten Schule wart ihr wohl nicht so viele?“
Ulli schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Wenn sie ihrer Banknachbarin verrät, dass an ihrer alten Dorfschule die dritte und vierte Klasse zusammen zwölf Kinder waren, lacht die sie vielleicht aus. Aber Djamila bohrt nicht weiter, sondern lächelt Ulli nur noch einmal lieb zu, sodass es ihr ganz warm ums Herz wird.
Kapitel 2
Die Schulglocke ertönt und die Kinder verlassen die Klasse. Ulli kriecht auf allen vieren unter ihrer Bank herum, um ihre Stifte aufzusammeln. Wie üblich hat sie ihre Schulsachen überall um ihren Platz herum verteilt. Ordnung ist nicht ihre größte Stärke. Djamila hilft ihr.
Da hören sie von draußen auf dem Flur wütende Stimmen – eine davon gehört Olli. „… noch nie irgendetwas weggekommen und jetzt sind diese beiden Neuen da und plötzlich verschwindet Zeug!“, schreit Freddie gerade, als auch Djamila und Ulli auf den Gang treten.
„Ich bin ja die ganze Zeit nicht auf dem Flur gewesen! Wie soll ich das geschafft haben?“ Olli ist hochrot im Gesicht und Ulli sieht, dass er Unterstützung braucht. So schlau ihr Bruder ist, so hilflos ist er, wenn ihn jemand anfeindet.
„Gibt’s da ein Problem?“, fragt sie und baut sich vor Freddie auf.
Auch wenn er einen halben Kopf größer ist als sie, weicht Stoppelkopf zurück. Aber klein beigeben tut er nicht. „Ja, gibt es. Einer von euch hat meine Schuhe gestohlen.“
„Ach so? Und wo haben wir deine Schuhe hingetan, Stoppelkopf?“ Ulli blitzt ihn wütend an.
„Was weiß ich? Gefressen?“
Ulli antwortet nicht auf diese blöde Anschuldigung, sondern sieht dem Kerl weiterhin furchtlos in die Augen. Zufrieden beobachtet sie, wie ein feiner Rosaton seine Wangen überzieht.
„Was ist hier los?“, fragt die Lehrerin.
Dankbar, dass er den Blickkontakt unterbrechen kann, sieht Freddie zu ihr. „Jemand hat meine Schuhe gestohlen“, sagt er klagend und wirft Ulli noch einmal einen vorwurfsvollen Blick zu, den die Lehrerin nicht missverstehen kann.
„Und du wirfst Ulli vor, sie gestohlen zu haben?“, fragt sie.
Stoppelkopf druckst herum.
Ulli schnaubt verächtlich. „Das ist ja eine feine Schule“, sagt sie. „Wir sind keinen Tag hier und werden schon als Diebe beschuldigt.“
„Ja, da muss ich dir recht geben“, sagt die Lehrerin. „Und es tut mir leid, dass wir euch keinen netteren Empfang bereitet haben. Freddie?“
Der Junge schäumt innerlich vor Wut, das kann Ulli sehen. Aber trotzdem stößt er ein gemurmeltes „Entschuldigung“ hervor. Dann sieht er die Lehrerin anklagend an: „Und was soll ich jetzt tun? Ohne Schuhe?“
„Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, als in deinen Pantoffeln nach Hause zu gehen“, sagt die Lehrerin. „Zum Glück ist es heute trocken.“
Freddie schießt Ulli und Olli nochmals einen wütenden Blick zu, dann packt er seine Schultasche und seine Jacke und verschwindet.
„Wir besprechen das morgen“, sagt die Lehrerin entschuldigend, dann hängt auch sie ihre Ledertasche über die Schulter. „Ihr kommt zurecht?“
„Sonst können wir helfen. Nicht wahr, Tim?“, meint Djamila.
Der Junge mit der knallgrünen Brille reckt begeistert beide Daumen hoch und die Lehrerin bedankt sich mit einem Lächeln bei ihnen, bevor auch sie den Flur entlang Richtung Ausgang geht.
Ulli und Olli sehen ihr nach.
„Toller erster Schultag“, sagt Ulli.
„Ja“, pflichtet ihr Olli bei. „Meinst du, Jakob und Philipp gehen heute durch den Wald nach Hause?“ Jakob und Philipp sind Ollis beste Freunde aus seiner alten Schule. Bei schönem Wetter