Mein Orient-Tagebuch: Der Löwe von Aššur. Tomos Forrest
erkennen, dass es sich wohl um Längen- und Breitengrade handelte sowie um ein paar Ziffern, die möglicherweise Entfernungsangaben waren.
Ich lehnte mich zurück und dachte nach.
Mesopotamien bildet zusammen mit der Levante das früheste Kulturgebiet des alten Orients. Sumerer, Babyloner, Akkader und viele andere Völker siedelten hier schon vermutlich Jahrtausende vor Christi Geburt. Die alten Städte waren längst untergegangen und der Wüstensand hatte viele Spuren verwischt. Perser, Makedonier, Parther, Sassaniden, Araber, dann die Osmanen, folgten in den nächsten Jahrhunderten und hinterließen ebenfalls ihre Spuren. Hier wurde einst Bier gebraut, es entwickelten sich bestimmte Keramik-Arten, die Kulturen erreichten ungeheure Kenntnisse in Handwerk und Technik, legten Kanäle zur Feldbewässerung an, ritzten Zeichen in Tontafeln und schrieben in Keilschrift und Buchstaben, beobachteten das Firmament und verehrten zahlreiche, mächtige Götter. Große Tempelanlagen waren ihnen gewidmet und bildeten heute für die Archäologen, besonders in England und Deutschland, ein überaus interessantes Forschungsgebiet, das jedoch durch die verschiedenen Machthaber und politischen Entwicklungen nicht einfach betreten werden konnte.
Ich erinnerte mich auch an den Fund einer alten Siegelrolle, die man in das 5. Jahrtausend vor Christi Geburt einstufte, gefunden am Ufer des Tigris. Und jetzt also wollte Sir David Lindsay, der schwerreiche englische Hobby-Archäologe, seinen großen Fund machen.
Hatte er nicht die Stadt Aššur erwähnt?
Je länger ich mich mit dem Thema auseinandersetzte und dabei immer wieder einen Blick auf die Notizen Lindsays warf, die hauptsächlich aus Stichwörtern bestanden, je mehr wirbelten mir die Gedanken durch den Kopf. Die Luft im Abteil war warm und stickig, ich wollte eines der Fenster herunterlassen und musste schließlich aufgeben, weil der dünne Stoffgurt befürchten ließ, bei nochmaligem Versuch zu reißen. Dazu kam das eintönige Rattern der Schienen, und irgendwann musste ich eingeschlafen sein.
Ich schreckte hoch, als der Zug auf freier Strecke plötzlich bremste und dann hielt. Verwundert blickte ich aus dem Abteilfenster in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen.
Wird wohl ein Signal sein!, dachte ich und wurde auch nicht misstrauisch, als ich plötzlich laute Stimmen hörte und ein paar Abteiltüren zugeschlagen wurden. Dann ruckte der Zug an und setzte sich wieder langsam in Bewegung. Erst jetzt fiel mein Blick auf meinen Nebensitz, auf dem ich den Inhalt des Umschlages ausgebreitet hatte. Nur der leere, braune Umschlag lag dort noch, Karte, Foto und Aufzeichnungen waren verschwunden.
Das ist ja wohl nicht möglich!, schoss es mir durch den Kopf.
Ich bückte mich, um unter den Bänken nachzusehen, aber da war überhaupt nichts.
Noch einmal untersuchte ich das Abteil gründlich, schob sogar die Hände zwischen die Polster und musste mir schließlich eingestehen, dass man mich beraubt hatte. Einfach so in einem harmlosen Zug auf dem Weg nach Süden. Wir hatten vor etwa einer Stunde Leipzig passiert und waren jetzt wohl auf dem Weg nach Frankfurt.
Ich trat auf den Gang hinaus und hielt Ausschau nach einem Schaffner.
Niemand schien sich Gedanken um den zusätzlichen Halt zu machen, die Abteile waren auch nur schwach besetzt. Also ging ich von einem Wagen in den anderen und traf schließlich in der Ersten Klasse auf einen Schaffner, der mir wohl gerade mit einer abwehrenden Bewegung den Zugang verbieten wollte, als ich ihm sofort das Wort abschnitt.
„Ich bin überfallen und beraubt worden. Warum hielt der Zug eben auf freier Strecke?“
Der Mann, ein kleiner, untersetzter und rotgesichtiger Beamter, schien buchstäblich in sich zusammenzusacken, als hätte man ihm die Luft abgelassen.
„Um Himmels willen, Raub? Aber das hatten wir ja noch nie in unseren Zügen!“
„So, dann ist es eben das erste Mal, guter Mann. Also, warum hielt der Zug?“
Ich sah den Kleinen streng an, und er schien förmlich noch weiter zusammenzusinken, als er schließlich auf ein Abteil hinter ihm verwies und kleinlaut antwortete: „Jemand in der Ersten Klasse hat die Notbremse gezogen. Bevor ich nach dem Rechten sehen konnte, war er aus dem haltenden Zug gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden.“
„Na, das ist ja wunderbar! Da werden nichtsahnende Reisende beraubt, der Täter zieht die Notbremse, und der Zug hält mitten auf der freien Strecke, damit der Dieb entkommen kann! Schöne Zustände!“
„Aber, bester Herr, ich bitte Sie, wie sollen wir wissen, dass es kein Notfall war?“
Ich wehrte mit der Hand ab.
„Egal. Wann kommt der nächste Bahnhof?“
„Das ist Frankfurt, aber erst in einer guten halben Stunde!“
„Gut. Dann werde ich dort Anzeige erstatten müssen! Sie werden mir Gesellschaft beim Gang auf das Revier leisten!“
Der Kleine riss entsetzt die Augen auf.
„Aber – das geht auf keinen Fall, Herr, ich kann doch den Zug nicht verlassen!“
„Ist mir eigentlich egal, aber dann sorgen Sie dafür, dass in Frankfurt die Polizei unterrichtet wird. Können Sie den Mann beschreiben, der in diesem Abteil saß?“
„Nein … nur so viel – es war ein großer Herr mit einem kräftigen Bart, aber ob ich ihn wiedererkennen würde – ich weiß nicht!“
„Nun, Sie wissen, was zu tun ist. Ich erwarte Sie in Frankfurt in meinem Abteil.“
Damit drehte ich mich um und kehrte in meinen Waggon zurück.
Natürlich hatte ich gar nicht die Absicht, den Diebstahl anzuzeigen. Einmal war die Nachsuche ja ohnehin unmöglich, dann würde mich eine Aussage auf einem Polizeirevier viel zu lange aufhalten. Nein, ich wollte eigentlich nur dem Schaffner ein wenig Dampf machen, damit er sich bemühte. Alles Weitere bliebe abzuwarten.
2. Kapitel
Ich verließ Freiburg wie geplant.
Das Gespräch mit meinem Verleger verlief wie gewünscht. Ja, er war sogar so freundlich, mir von sich aus einen Vorschuss anzubieten, wenn ich meine zu erwartenden Abenteuer nach Rückkehr sofort niederschrieb. Ich hatte ihn ja durch meine Reiseerzählung Giölgeda padishanün für mich eingenommen, die seinerzeit im Deutschen Hausschatz erschien. So reiste ich inzwischen in guter Stimmung zurück und hatte den dreisten Diebstahl im Zug eigentlich überwunden, als mich bei meiner Ankunft in Dresden ein neuerlicher Zwischenfall auf seltsame Weise daran erinnern sollte. Es wurde schon langsam dämmrig, denn die Bahnfahrt dauerte lange und ich war froh, noch vor der Dunkelheit wieder in Dresden zu sein. Gerade sah ich mich vor dem Leipziger Bahnhof nach einer Droschke um, als mir ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit dichtem, schwarzen Bart auffiel, der kaum zehn Meter von mir entfernt aus der Bahnhofshalle getreten war und zielstrebig auf eine wartende Kutsche zueilte. Er trug, wie ich, nur eine leichte Reisetasche, und ich beeilte mich, ihn einzuholen. Schon öffnete er den Schlag und warf seine Tasche auf die Sitzbank und wollte sich gerade an dem Haltegriff hinaufziehen, als ich ihn ansprach.
„Entschuldigung, Herr, aber sind Sie nicht Dr. Frank Großer aus Leipzig?“
Erstaunt drehte sich der Bärtige zu mir um, musterte mich aus eiskalten, blauen Augen von Kopf bis Fuß, schüttelte den Kopf und stieg ein, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Die Kutsche ruckte an, die Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, und ich hatte buchstäblich das Nachsehen.
Doch dann entdeckte ich eine freie Droschke, aus der eben die Passagiere ausstiegen und mit ihrem Gepäck von einem Gepäckträger begleitet wurden.
Rasch war ich bei dem Kutscher und rief ihm zu, der bereits ein Stück voraus fahrenden Kutsche nachzufahren.
„Sind Sie ein Gendarm?“, erkundigte sich der Kutscher erstaunt, drehte aber die Bremse wieder los.
„Nein, ein Privater!“, antwortete ich doppeldeutig und schloss den Verschlag.
„Also ein Geheimer!“, antwortete der Kutscher