Fontanka. Markus Szaszka
wurde auf einem Stuhl platziert und musste warten, bis die vier Erwachsenen genügend höfliche Floskeln ausgetauscht hatten. Danach widmeten sie sich dem unartigen Mädchen, dem in den Mund gesehen, in die Augen geleuchtet und Temperatur abgenommen wurde. Zu viert standen sie über das Kind gebeugt, schüttelten mit den Köpfen und fragten, einer nach dem anderen, wieso es in die Fontanka gesprungen war. Eine Antwort bekamen sie nicht. Stattdessen sah Anuschka teilnahmslos zu Misha Masha, die auf ihren ausgebreiteten Handflächen saß.
»Das ist alles nur wegen diesem dämlichen Stofftier passiert«, bemerkte Komarow.
»Dieses Ding hat Anna pausenlos bei sich«, fügte Koslowa hinzu.
»Das kann doch nicht normal sein, verehrter Herr Doktor. Oder? Doch nicht in diesem Alter!«, ergänzte Rektorin Baranowa.
Der Schularzt beobachtete Anna noch ein paar Augenblicke, um sich sicher zu sein, und pflichtete seiner verdienstvollen Vorgesetzten bei. »Jaja. In der Tat, in der Tat. Hier stimmt etwas nicht. Folge meinem Finger, Mädchen.«
Anuschka gehorchte.
»Beine übereinanderschlagen. Nicht erschrecken, ich teste deine Reflexe.« Der Doktor klopfte ihr mit einem kleinen Kunststoffhammer auf das oben liegende Knie, was ihr Bein in die Höhe wippen ließ. Das amüsierte Anna und sie lächelte.
»Das findest du lustig, was?«, fragte Schtscherbakow und sie nickte. »Und du möchtest nicht verraten, weshalb du in den Fluss gesprungen bist?«
Anna hob Misha Masha und streckte sie dem Arzt entgegen.
»Ich sehe, du hast ein Bärchen, aber ich habe dich etwas gefragt. Nun?«
Anna senkte ihren Kopf und sah wieder abwesend aus.
»Herr Komarow, erzählen Sie bitte noch einmal, was passiert ist«, bat die Klassenlehrerin ihren Kollegen.
»Na, was soll ich sagen? Sie ist einfach gesprungen und ich dann hinterher. Mehr war da nicht. Es ging sehr schnell.«
»Solche Lehrer brauchen die Schulen!«, lobte Baranowa.
»Vorbildlich, vorbildlich«, bestätigte Schtscherbakow. »Nun, es ist eindeutig. Was wir hier vor uns sehen, ist ein mental zurückgebliebenes Kind. Es ist nichts Schlimmes, aber sie ist ein bisschen langsam im Kopf. Ich würde schätzen, dass sie auf dem Stand einer Vierjährigen ist.«
»Wusst ich's doch!«, freute sich die Rektorin.
»Das erklärt, wieso Anna immer so abgelenkt ist. Es ist, als wäre sie meistens sehr weit weg«, meinte die Klassenlehrerin, die glaubte, jetzt zu verstehen.
»Genau! So ist es! Die hellste Leuchte ist sie nicht und wird es auch nie sein«, schloss Schtscherbakow absichtlich harsch, damit seine Arbeitskollegen etwas zu lachen hatten, und tätschelte Annas Kopf, die starr sitzenblieb. Sie spürte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen, dass sie kribbelten und dass ihr Herz schneller schlug, gleichzeitig bemühte sie sich, ihre Hände nicht zu verkrampfen, um Misha Masha nicht wehzutun.
Danke, sagte das Bärchen und streichelte mit einer Pfote die Finger von Anna, was sie ein wenig beruhigte.
»Was sollen wir mit ihr tun, verehrter Herr Doktor«, fragte Baranowa.
»Als Erstes müssen wir ihr dieses dumme Spielzeug wegnehmen!«, beschloss Klassenlehrerin Koslowa plötzlich gereizt und riss Anna ihre Misha aus den Händen. »Wir betreiben hier doch kein Spielzeuggeschäft, sondern eine ehrbare Schule, richtig, Frau Baranowa?«
Ahh! Hilfe! Hilfe!
Von der Grobheit ihrer Lehrerin überrumpelt, begann Anuschka bitterlich zu weinen, aber nicht, wie sie es sonst tat, stumm und ausdruckslos, sondern laut und schrill, sodass den Anwesenden die kleinen Härchen auf Nacken und Armen zu Berge standen.
Frau Baranowa kam nicht mehr dazu, ihrer Kollegin zu antworten, denn in diesem Moment betrat Feodora das Sprechzimmer, deren Herz brach, als sie ihre leidende Tochter inmitten der vier Schulbediensteten sah.
»Was ist hier los?«, fragte sie entsetzt, stürzte zu ihrem Kind, nahm es in die Arme und fragte erneut, nun mit einer sanften und besorgten Stimme, was los sei.
»Sie haben Misha Masha gestohlen«, stammelte Anna und zeigte auf ihr Kuscheltier.
»Ihre Tochter, Frau Smirnowa, ist heute in die Fontanka gesprungen«, berichtete die Schulleiterin, darauf bedacht, möglichst energisch und einschüchternd zu sprechen. »So etwas hat es bei uns noch nicht gegeben!«
»Frau Smirnowa, ich muss Ihnen leider sagen, dass ihr Kind zurückgeblieben ist…«, ergänzte Komarow, der vom vielen Lob dieses Tages beflügelt war und mitreden wollte. Seiner Art entsprechend tat er es taktlos und ungeschickt. Selbst die Rektorin, die Klassenlehrerin und der Schularzt sahen ihn unverständig an, aber der einfach gestrickte Sportlehrer begriff nicht, weshalb. Und als er seinen Mund aufmachte, um nachzufragen, was los war, da durchschnitt ihm Feodora das Wort indem sie aufstand, sich vor ihn stellte, »Pscht!« zischte und ihre geballte Faust vor seiner Nase zittern ließ. Er hielt seinen Mund und tat gut daran, nicht so Koslowa, die Anstalten machte, etwas zu sagen.
Mehr als ein »Aber ich bitte Sie, Frau…« brachte sie nicht heraus, denn schon war Feodora bei ihr, packte sie fest am Handgelenk, nahm Misha Masha an sich und überreichte sie ihrer Anuschka.
Jetzt wird alles gut, jetzt ist Mama da, sagte das Bärchen und zeigte den Lehrern und dem Arzt die Zunge. Anna machte es ihrem Stofftier nach, bevor sie von ihrer Mutter nach draußen auf den Flur geführt und gebeten wurde, kurz zu warten.
Als Dora wieder im Ärztezimmer war, begann ein hysterisches Geschrei, wie Anna es von ihrer Mama noch nie gehört hatte. Dem Schulpersonal wurden die Leviten gelesen, auf äußerst laute und vernichtende Art. Keiner der vier noch wenige Minuten zuvor bestens gelaunten Arbeitskollegen traute sich, Paroli zu bieten. Das rückradlose Quartett ergab sich also den Beschützerinstinkten einer furchtlosen Mutter, gegen die es ohnehin nicht ankommen konnte.
Endlich begriffen Baranowa und Konsorten, dass sie sich dieses Mal vertan hatten, dass dieses Mal eines der wenigen Male war, da sich ein Elternteil nichts einreden ließ, sondern augenblicklich verstand, dass die Führungsriege dieser Schule unfähig und charakterlos war.
Dora hielt sich nicht zurück, erklärte, dass es unerhört sei, wie in dieser Institution mit den Kindern umgegangen wurde, dass sie allesamt gefeuert werden sollten, dass es die Verantwortung der Lehrer sei, auf die Kinder aufzupassen, und nicht, diese zu verängstigen und für dumm zu befinden. Weiter versprach sie, dass ihre Anwaltskanzlei über die Schule hereinbrechen werde wie Heuschrecken über ein biblisches Dorf, wenn einer von den Anwesenden ihre Tochter noch einmal unangemessen behandeln sollte.
Feodoras Drohungen zeigten Wirkung, vor allem, weil nur sie wusste, dass sie bluffte, dass kein Anwalt ihrer Kanzlei einen Finger rühren würde, ohne bezahlt zu werden, und dass sie keinen einzigen Rubel überhatte, der nicht für Miete oder Essen draufging.
Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie aus der Arztpraxis, hievte ihr Kind in ihre Arme und trug es erst nach draußen und dann den ganzen Weg nach Hause, um es zu umsorgen.
Anna war wieder ruhig geworden, weinte nicht mehr und besprach das Geschehene mit Misha Masha, und dennoch; Dora machte sich Sorgen. Sie fragte sich, wie viel eine Kinderseele ertragen konnte.
Kummer
Während des Sommers hatte sich Dora zunehmend viele Gedanken über die Zukunft ihres Kindes gemacht. Sie beschloss, dass es nicht weitergehen konnte wie bisher, womit sie in erster Linie Annas intensive Beziehung zum Eisbärenmädchen Masha meinte.
Feodora verstand sehr gut, dass ihre Tochter ein Stofftier brauchte, vor allem, weil sie häufig allein war. Sie verstand auch, dass Anuschka ihre Misha weniger als Spielzeug und mehr als beste Freundin betrachtete. Ihr entging aber auch nicht, dass ihre Kleine diese Beziehung zu ernst nahm.
Da diese spezielle Freundschaft bis zu dem unliebsamen Ereignis an der Fontanka keinen negativen Einfluss auf Anna gehabt hatte, hatte Feodora sie