Ardantica. Carolin A. Steinert
Ilmenau ist halt nicht so groß, ne. Und da dachte ich, ihr macht euch einen fetten an deinem Geburtstag, in der Heimat und du sagst mir einfach nicht Bescheid. War erst echt ein bisschen angepiekst. Aber nee, dann kam Katja angestiefelt und ich dachte mir so: woa, nee, ne?! Und mir war alles sofort klar.«
Leyla musste ein Lachen unterdrücken. Andrea war immer alles sofort klar, auch wenn sie nicht selten die falschen Schlüsse zog. Aber sie revidierte ihre Meinung auch sehr gerne, von daher war das kein Problem.
»Hättest doch mit ihm runterfahren können und wir hätten ’nen Girlsday gemacht.«
»Ich habe Uni, Andy!«, rief Leyla beinahe tadelnd.
»Scheint Majik ja auch nicht zu stören. Hat er heute schon angerufen?«, fragte Andrea sehr interessiert.
»Ja, ungefähr sieben Mal.«
»Du bist nicht rangegangen?«
»Ich habe Uni …«
»Ach, bitte! Wer kennt deinen Stundenplan und die Pausenzeiten besser als er? Du bist sauer! Weil er nicht da ist, an deinem Geburtstag? Vermisst du seine Gesellschaft?« Aus irgendeinem Grund klang Andreas Stimme triumphierend und Leyla wusste, dass sie wieder ihre Schlüsse zog.
»Nein, ich verstehe das«, versuchte sie das Gespräch zu retten, denn sie wusste, was kommen würde.
»Ja, ich finde auch, dass er mit Katja Schluss machen sollte. Ihr wärt das perfekte Paar.«
»Andy!«, tadelte Leyla schwach und stieg in den Bus ein.
»Ist doch wahr«, fuhr Andy ein wenig gekränkt von der genervten Zurechtweisung fort. »Gefühlt ganz Ilmenau weiß, dass er nur mit Katja zusammen ist, weil er dich nicht haben kann. Nur du checkst das nicht. Oder willst es nicht checken.«
Leyla überlegte kurz, ob sie vehement widersprechen sollte, dann sagte sie aber nur: »So lange er nichts sagt, kann ich so tun, als wüsste ich nichts. Er ist mein bester Freund!«
»Bei dir klopft jemand an«, lenkte Andrea ein und Leyla warf einen Blick auf das Display.
»Majik.«
»Na, dann will ich mal nicht die Leitung weiter besetzen. Hasta luego, Süße.« Und mit diesen Worten legte Andrea einfach auf.
»Du bist sauer auf mich«, sagte Majik leise und etwas anklagend, als Leyla wortkarg neben ihm herlief. Tatsächlich hatte es gerade herzlich wenig mit Majik zu tun, dass ihre Stimmung so merkwürdig war. Zweimal hatte sie am gestrigen Tag noch dieses komische Flackern an der Uni gesehen und allmählich machte sie sich wirklich Sorgen. Nur halbherzig hatte sie deswegen Majiks Geschenk begutachtet: Ein Comic mit Leyla in der Hauptrolle – die Figur hatte wirklich verblüffend viel von Leyla, auch wenn sie ihrer Ansicht nach deutlich hübscher war, als Leyla sich selbst fand – und einen »Ich gestalte dir einen rundum coolen Tag«-Gutschein. Sie hatte sich abwesend bedankt und alles in die Tasche gepackt.
»Ich bin nicht sauer«, sagte sie nun.
»Ich musste dir auf den Anrufbeantworter sprechen, um dir zu gratulieren, weil du nicht ans Telefon gegangen bist. Und als ich dich heute Morgen abholen wollte, warst du schon auf dem Weg zur Uni. Allein. Mit dem Bus!«, sagte er. Es war jedoch kein Vorwurf in seiner Stimme. Sie sah ihn von der Seite an und fühlte sich plötzlich unglaublich mies, als sie sah, wie traurig er dreinschaute. Sie war natürlich auch tatsächlich ein wenig enttäuscht gewesen, aber hatte sie dazu eine Berechtigung?
»Tut mir leid«, sagte sie lächelnd und umarmte ihn. »Ich bin zurzeit nicht gut drauf. Komm, lass uns etwas essen gehen und dann erzählst du mir den neuesten Straßenklatsch von Ilmenau. Ich will mir nur noch schnell die Hände waschen. Ich möchte gar nicht wissen, was da unter meinem Stuhl geklebt hat.« Angewidert sah sie auf ihre Hände. Majik war augenblicklich versöhnt.
»Okay. Ich warte hier auf dich.«
Sie nickte und stieg die Treppe hinauf.
Ein leichtes Prickeln überzog ihre Haut, als sie sich der Toilettentür näherte. Sie sah das Flackern und obwohl sie sich davor gefürchtet hatte, erstaunte es sie nicht wirklich, als die Welt plötzlich wieder schwarz wurde. Es beruhigte sie sogar ein wenig. Wenn es immer an denselben Stellen geschah, konnte das doch nichts mit ihr zu tun haben, oder? Zögernd blieb sie stehen und zum ersten Mal rannte sie nicht weg, sondern sah sich um.
Sie stand in einem Raum von der Größe eines Seminarraums. Durch die hohen Fenster gegenüber fiel kaltes Licht und beleuchtete schwach Regale voller Bücher an der linken Seite, einen alten Sekretär davor und viele schlichtere Tische und Stühle. In der Tat sah es aus wie ein Klassenraum. Ein Klassenraum, in dem jedes einzelne Detail schwarz war. Leyla schauderte und machte ein paar weitere Schritte in den Raum. Ihre Schritte hallten auf dem schwarzen Steinboden wider und verklangen in der Leere. ›Stein!‹, dachte sie und fuhr mit den Fingern über den reichverzierten Sekretär. Es schien, als wäre alles aus Stein. War es ein Filmset? Ein Museum? Sie schüttelte den Kopf. Das war eindeutig ihre Phantasie, die mit ihr durchging. Hatte sie sich überarbeitet? Sie musste mit Majik reden. Eilig ging sie auf die angelehnte Tür zu. Dann zögerte sie. Was wenn sie durch die Tür nicht zurück in die Wirklichkeit kam? Vielleicht war irgendetwas in ihrem Kopf, ein Tumor oder ähnliches und sie war ohnmächtig geworden und befand sich in einer Art Koma? Ihr Nacken fing unangenehm an zu Prickeln und sie erschauderte. Sie hatte das Gefühl, als würden sich unsichtbare Augen in ihren Rücken bohren. Mit aller Macht versuchte sie dem Gefühl entgegenzuwirken, zu widerstehen und weiterzugehen. Dann drehte sie sich doch um. Nur um sich zu vergewissern. Nur schnell schauen und sichergehen, dass niemand hier war, in dieser unheimlichen Fata Morgana.
Ihr Blick huschte von den Regalen links, durch den Raum, über die Tische und Stühle – und war das etwa ein versteinerter Federkiel, ein Tintenfass?! Es war alles so detailreich! – zur rechten Seite. Diese Seite lag im Dunkeln. Ein unbeweglicher schwarzer Vorhang hing vor dem letzten Fenster und das Licht von vorne hatte nicht die Kraft, um in die hintersten Ecken vorzudringen. Leyla machte einen Kamin aus und … aus der Dunkelheit daneben schälten sich zwei furchterregende, leuchtend gelbe Augen.
Sie verlor die Fassung, schrie und machte einen Satz auf die Tür zu, doch noch bevor sie diese erreicht hatte, machte sie ein Flackern aus und stand mit weit aufgerissenen Augen im Universitätsflur. Augenpaare – normalfarbene – richteten sich auf sie. Leyla klappte den Mund zu und hörte auf zu schreien. Sie lächelte nervös und entschuldigend und lief die Treppe hinunter – so schnell sie konnte.
»Die Hygiene hier an der Uni ist wirklich unterirdisch«, hörte sie jemanden sagen, während sie auf die Portaltür zusteuerte. Jemand packte sie an der Schulter. Sie holte Luft, doch der Laut erstarb auf ihren Lippen, als sie Majik erkannte.
»Warst du das, die geschrien hat?«, fragte er verblüfft und musterte sie von oben bis unten. »Du bist ganz weiß, geht es dir gut?« Er hielt sie immer noch fest.
»Komm mit!«, keuchte sie ohne auf seine Fragen einzugehen, packte ihn und zog ihn die Treppe rauf.
»Was?«, fragte er und machte sich los. »Was soll das? Ley, ich kann da nicht rein, das ist das Mädchenklo!«
»Aber …«
»Was ist los, Kleines?«
»Komm schon. Bitte! Du musst das sehen!«
Widerwillig ließ er sich mitzerren. Leyla stieß die Tür mit dem Fuß auf und bedeutete ihm einzutreten.
»Hey!«, rief eine empörte Stimme. »Das ist das Mädchenklo. Was soll das?«
Nichts war passiert.
Majik stand im Vorraum des Mädchenklos und sah sie fragend an.
»Könntest du mir mal bitte erklären, was los ist?«, fragte er leise, während er sich mit einem entschuldigenden Lächeln rückwärts bewegte.
»Aber …«, stammelte Leyla.
»Kleines?« Besorgt sah er sie an.
»Lass uns essen gehen«, sagte sie