Ardantica. Carolin A. Steinert
überarbeitet, Ley!«, sagte er, nachdem sie ihm erzählt hatte, was sie gesehen hatte. »Mach dich nicht verrückt. Wir machen uns ein richtig cooles Wochenende und entspannen. Du wirst sehen, danach sieht die Welt wieder ganz anders aus.«
Sie presste ihre Lippen zusammen, sodass sie noch schmaler wurden und stierte in ihren Nudelsalat.
»Vermutlich hast du Recht.«
»Habe ich immer«, sagte er und lehnte sich lässig zurück. Er musterte sie nachdenklich. Fragend sah sie ihn an. »Ich dachte nur«, meinte er, »dass das aber eine ziemlich geile Geschichte wäre. Wir könnten es zeichnen. Oder versuchen einen Film daraus zu machen. Oder einen Film aus unseren Zeichnungen. Ich hab’ auch schon eine Klaviermelodie im Kopf.«
Sie lachte und griff nun endlich nach der Gabel.
»Und wie willst du dein Kunstwerk nennen?«, fragte sie grinsend.
»Der Riss in der Wirklichkeit!«
Gelbe Augen
S
ie sah es wieder. Am Montagmorgen in der Uni. Gerade als sie den Vorlesungssaal betreten wollte, flackerte es in ihrem Sichtfeld. Doch der Schreck blieb dieses Mal aus. Sie hatte sich am Wochenende tatsächlich ziemlich entspannt und jetzt war sie sich sicher, dass es weder Überarbeitung noch irgendein physisches Symptom war. Nervosität paarte sich mit einem Hauch von Neugier, als sie sich von dem Vorlesungssaal abwandte und sich auf das Flimmern zubewegte. Sie fixierte die Stelle und kaum, dass sie diese erreicht hatte, wurde die Welt um sie herum rabenschwarz.
Sie zögerte, machte dann jedoch noch ein paar weitere Schritte. Sie war in einem langen Flur, dem ihrer Uni nicht unähnlich, wenn man von der Schwärze absah. Ein riesiges Fenster spannte sich über die Decke und ließ wieder dieses kalte, graue Licht ein, sodass Leyla einiges erkennen konnte. Flammenzeichnungen zogen sich über die Wände. Fasziniert trat sie näher und ließ ihre Finger vorsichtig darüber gleiten. Es war so detailliert, sah so echt aus! Wie eingefrorenes Feuer. Ihr Blick wanderte weiter. Eine geschwungene Treppe zu ihrer Rechten führte in die unteren Stockwerke. Sie lehnte sich übers Geländer und blickte nach unten. Doch dort schien die Schwärze geradezu undurchdringlich. Leyla sah sich nach einem Lichtschalter um. Es gab keinen. Dann erst bemerkte sie, dass zahlreiche erloschene Fackeln an den Wänden hingen.
»Das ist ja wie im Mittelalter«, murmelte sie zu sich selbst und schüttelte gleich darauf den Kopf. Dazu war der Raum, den sie vergangene Woche gesehen hatte, viel zu modern gewesen. Na, was hieß modern. Vielleicht könnte dieser aus dem 19. Jahrhundert gewesen sein. So genau wusste Leyla das aber auch nicht, Geschichte war nicht unbedingt ihre Stärke. Noch einmal warf sie einen Blick nach unten und entdeckte die schweren, schwarzen Vorhänge. Aha. Dort unten gab es also auch Fenster. Den Mut hinunter zu gehen und die Vorhänge beiseitezuziehen, hatte sie allerdings nicht. Im Gegenteil. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unglaublich dumm es von ihr war, überhaupt hier zu sein. Wo auch immer »hier« gerade war. Plötzlich fielen ihr wieder die gelben Augen ein und aus dem unguten Gefühl wurde plötzlich wieder die altbekannte Angst. Sie wandte sich ruckartig wieder dem Gang zu und sah sich beinahe hektisch um. Wo war der schimmernde Fleck? Durch ihn musste sie doch wieder zurückkommen, oder? Dort! Unweit von ihr entfernt. Sie machte ein paar Schritte darauf zu und hielt wieder inne. Ihr Herz raste, doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht dazu durchringen, weiter auf das Flackern zu zugehen. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie da und starrte auf den Flecken. Ihr Verstand schrie danach hindurch zu gehen, aber etwas anderes in ihr hielt sie zurück. Also machte sie einen Bogen um das Flackern herum und ging weiter den Gang hinunter.
Zahlreiche Türen gingen von dem Flur ab – ganz wie in ihrer Uni. Sie wollte eine der Türen öffnen, doch die Klinke ließ sich nicht einen Millimeter bewegen. Sie war aus Stein. Nun drückte und zog Leyla testhalber am Griff, doch auch die Tür bestand aus massivem Gestein und bewegte sich nicht. Es schien, als wäre sie mit dem Rahmen verwachsen. Oder war es gar keine Tür, sondern nur Wanddeko? Leyla kniff die Augen zusammen und versuchte es zu erkennen. Erfolglos. Sie ging weiter, zog hier und da mal wieder an einer Steintür und erreichte das Ende des Ganges. Auch hier führte eine Treppe mit reichverziertem Geländer hinab, doch waren die großen Fenster an dieser Seite nicht von schweren Vorhängen verhangen. Leyla trat näher. Die Scheiben wirkten sonderbar matt und grau und waren für das Zwielicht im Innern verantwortlich, obwohl – so konnte sie sehen – sich draußen keine Wolke am Himmel befand und sich somit ein strahlendes Blau über einem schwarzen Park und weiteren gigantischen, schwarzen Gebäuden erstrecken musste. Sie begann zu frösteln. Was war das hier? Gegen ihren Willen bewegten sich ihre Füße nun doch auf die Treppe zu und sie nahm die ersten Stufen. Es hallte sonderbar und sie konnte nicht ausmachen, ob der Klang vom Material oder der Einsamkeit kam.
Etwas erregte im unteren Stockwerk sofort ihre Aufmerksamkeit. Eine der zahlreichen Türen stand offen!
»Oh, Ley, was machst du nur?«, wisperte sie leise. Sie sollte zurückgehen und Majik holen. Der wäre sicherlich ziemlich begeistert von all dem hier. Für sie war das nichts. Andererseits hatte Majik nicht in diese sonderbare Welt gehen können. »Komm schon, liefere ihm ein wenig Stoff für seine neue Geschichte«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Oder nähere dich wenigstens ein bisschen seinem Bild von dir an«, fügte sie hinzu. Sie hatte den Comic, den er ihr geschenkt hatte, durchgelesen und war beeindruckt. Es war faszinierend zu sehen, wie er sie sah. So viel mutiger und intelligenter als sie war. Sie bemerkte, dass sie mittlerweile auf Zehenspitzen zu der Tür schlich.
Vorsichtig linste sie um die Ecke. Der Raum war riesengroß, halbrund und – das Wichtigste – er war leer. Leyla stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte und trat ein. Es schien ein Gemeinschaftsraum zu sein. Die kleinen Fenster an der gerundeten Seite waren sehr dunkel, was sich auf den Raum auswirkte. Aber sie konnte trotzdem genug erkennen. Sessel, die, wenn sie aus Polster und nicht aus Stein bestehen würden, sicherlich durchaus gemütlich wären, standen überall verteilt. Sie standen auf hauchdünnen Podesten oder … Nein, es sollten wohl Teppiche sein! An zwei Wänden hingen gerahmte Bilder, die allesamt schwarz schienen und von erloschenen Fackelstäben flankiert waren. Die dritte Wand war gefüllt mit Regalen voller merkwürdiger Dinge wie Kugeln, undefinierbare Klumpen und Schreibutensilien, zum Beispiel steinerne Federn. Auch zwei Bücher standen dort. Sie trat näher. Die Buchrücken trugen gestanzte Titel. Leyla kniff die Augen zusammen, fuhr dann behutsam mit dem Finger hinüber und versuchte zu ertasten, was dort stand. Hinausziehen konnte sie die Bücher nicht. Es waren Steinquader, die mit dem Regal oder miteinander verbunden waren. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und seufzte. Es war aus. Wieder einmal hatte sie vergessen, den Akku zu laden. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie griff nach ihrer Umhängetasche und begann in der Außentasche zu kramen. Tatsächlich wurde sie fündig. Triumphierend zog sie eine Packung Streichhölzer hervor. Sie war Nichtraucherin, hatte sich aber angewöhnt, eine Packung mit sich herumzutragen, da es in Berlin gang und gäbe schien, fremde Leute anzuquatschen und nach Feuer zu fragen. Und insgeheim hoffte Leyla dadurch vielleicht tatsächlich neue Leute kennenzulernen. Nun hatten die Hölzchen endlich einen sinnvollen Zweck zu erfüllen. Sie entzündete ein Streichholz und hielt es an die Buchrücken. »Kraftrückzug« stand auf dem einen und »Elementare Grundlagen der Feuerkraft« auf dem anderen. Nun, das waren wirklich mal sonderbare Titel. Sie pustete das Holz aus, bevor es ihr die Finger verbrannte und entzündete rasch ein neues. Irgendwie gab ihr das kleine Licht ein wenig Sicherheit. Sie wandte sich um, um den Rest des Raumes genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr Blick fiel auf die Tür, durch die sie gekommen war.
Unweit dieser, am Boden, waren zwei leuchtend gelbe Augen. Sie gehörten zu einer gigantischen Raubkatze, die sich nun aus ihrer geduckten Haltung aufrichtete, fauchte und auf samtenen Pfoten auf Leyla zu marschierte.
Leyla hielt kurz den Atem an. Dann stieß sie einen gellenden Schrei aus. Die Katze fauchte erneut. Das Streichholz entglitt ihren zitternden Fingern, fiel auf den Boden und erlosch sofort. Es war eigentlich nur ein kleines Licht gewesen, aber durch den Blick in die Flamme und das plötzliche Halbdunkel konnte sie für Sekunden kaum etwas sehen. Intuitiv duckte sie sich und wich zurück. Hart prallte sie gegen das Regal. Sie drückte sich mit dem Rücken dagegen und riss die Arme abwehrend hoch. Das Letzte, was sie zwischen den Nachbildern und der Schwärze