Boheme. Markus Szaszka
Weihnachtsbeleuchtungen und der Schmuck hingen noch; Schneekristalle aus Papier, Zweige von Nadelbäumen, Christbaumkugeln, Weihnachtsgebäck- und Präsentattrappen. Ob der visuellen Herrlichkeit kamen die Gäste, die aßen und ihre ohnehin schon vom kalten Wind geröteten Wangen mit ihren Glühbieren und Glühweinen noch rötlicher machten, kaum noch aus dem Grinsen heraus. Eingekuschelt in ihre warmen Wollpullover, fühlten sie sich in dieser nachweihnachtlichen Atmosphäre sichtlich wohl.
Wie die Motte zum Licht, steuerte Maksymilian auf ein besonders bunt ausgeschmücktes Café-Restaurant – das Europejska – zu, blieb vor der Glasfront reglos stehen und beobachtete die Szenerie, bemüht, das Plakat mit dem lebensgroßen Michał auf der Litfaßsäule nebendran auszublenden.
Maksymilian konnte den Braten und den Wein förmlich schmecken, derart herrlich waren die Speisen angerichtet. Ferner stellte er sich vor, wie gut ihm jetzt die Wärme der Heizung tun würde. Bei diesem Gedanken begannen sich unter der dicken Kleidung die Härchen auf seinen Armen aufzurichten.
Er genoss diesen Anblick, der wie geschaffen war, um ihn zu beschreiben. Vielleicht im nächsten Bericht, dachte er. Maksymilian spürte ein leichtes Ziehen am Ärmel seines Mantels. Es war ein junges Mädchen, um die sechzehn Jahre jung, das ihn mit leuchtenden Augen anstarrte und den Mund kaum aufzumachen vermochte – hinter ihr die Eltern und ein kleiner Junge, vermutlich der Bruder des Mädchens.
»Entschuldigen Sie, ich möchte nicht stören, aber könnte ich ein Autogramm von Ihnen haben?«
Mit einem aufgeregten Zittern in ihrer Stimme überreichte das Mädchen dem Schriftsteller einen Stift und eine Ansichtskarte, auf der die Burganlage Wawel zu sehen war und welche sie vermutlich während ihres Spazierganges mit der Familie erstanden hatte.
»Natürlich, wie ist dein Name?«
»Anja. Danke. Ich mag Ihre Geschichten über Mateusz sehr!«
Maksymilian unterschrieb auf der Rückseite der Karte, ungeschickt auf einem Bein stehend und das Stück Karton auf dem anderen Oberschenkel abstützend, kritzelte noch eine Widmung hin und überreichte sie dem Mädchen, das rot wurde und sich zu Mama verkrümelte, nachdem er ihr zum Abschied einen Handkuss geschenkt hatte. »Das freut mich.«
Die freundliche Familie verabschiedete sich im Chor: »Auf Wiedersehen.« Lediglich der Vater blickte etwas missgestimmt drein.
Aufgrund der Unterbrechung aus seinem kreativen Takt geraten, wandte Maksymilian seinen Blick vom Restaurant ab, sah hoch zur nächstgelegenen Laterne, dann zur nächsten und weiter, die ganze Reihe entlang, deren Ende im Flockentanz verschwamm. Er wusste, dort hinten, wo ihn die Laternenreihe hinführen würde, da musste er sich seiner Vergangenheit stellen, in der Ulica Gołębia3 Nr. 1, wo Michał wohnte.
Gegenüber von Michałs Wohnhaus, im dunklen Fleckchen genau zwischen den Lichtkegeln zweier benachbarter Wandlaternen, stand Maksymilian gegen die Wand gelehnt, über ihm ein gläsernes Vordach. Mit seinem nachlässig um den Hals geworfenen Schal wischte er sich die triefende Nase ab. Ein Bein leger über das andere gelegt ließ er seine Glücksmünze, ein goldenes 20-Yen-Stück, das er immer dabeihatte, in seiner rechten Hand zwischen den Fingern wandern – wie immer, wenn er nervös war. Ab und an durchschritten Passanten seinen nebligen Atem, doch Maksymilian beachtete sie nicht weiter, den Kopf starr nach oben gerichtet, auf die beiden Fenster im ersten Stock über dem italienischen Pasta-Restaurant.
Die Wohnung hinter diesen Fenstern kannte er nur zu gut. Dutzende Male hatte Maksymilian dort übernachtet, auf einem schwarzen Ledersofa, wo er abends mit Broten verpflegt und morgens mit einem Kaffee begrüßt worden war – früher, als er und Michał noch Freunde gewesen waren.
Aus einem gekippten Fenster drangen leise die Töne von Tschaikowskys Danse hongroise an Maksymilians Ohr. Und hätte er jetzt gerufen, hätte Michał ihn mit Sicherheit gehört, ihn vielleicht sogar reingelassen, vielleicht aber auch das Fenster geschlossen oder die Musik lauter gedreht, also ließ er es bleiben, verweilte weiterhin stumm gegen die Wand gelehnt und beobachtete Michałs gut an der Zimmerdecke zu erkennenden, tanzenden Schatten. Offensichtlich verinnerlichte er letzte Schritte für seinen morgigen Auftritt in der Oper, den letzten Abend, an dem Schwanensee in dieser Besetzung und unter dieser Leitung aufgeführt werden sollte.
Bestimmt stehen all seine Möbel nach wie vor aneinandergereiht an den Wänden, in der Mitte ein leerer Raum zum Tanzen, überlegte Maksymilian. Wieso nur hat er mir diese SMS geschrieben? Nach so langer Zeit! Eine halbe Stunde stand er vor dem Fenster seines ehemaligen Kameraden, dachte über Vergangenes nach und betrachtete den Schatten des fleißigen Tänzers.
Nach langem Abwägen, ob er nun hinaufgehen sollte oder nicht, entschloss sich Maksymilian, doch nicht an der Türklingel mit dem Aufkleber eines kleinen Bärchens neben dem Namen zu läuten. Nicht heute. Es war schon spät und Maksymilian hätte an diesem Abend sicher nicht mehr die richtigen Worte gefunden. Morgen. So ist es besser. Ich besuche ihn vor seinem Auftritt, wie früher. Er steckte seine Münze zurück in die schmale Uhrtasche seiner Jeans, warf ein Schalende über seine Schulter und ging weiter, den Mantel erneut mit beiden Händen zuhaltend.
Maksymilians Kopf war vollgestopft mit Gedanken, was ihn nicht sonderlich gestört hätte, wären es nicht solche von der Sorte, die sich nicht entwirren oder sortieren ließen. Das ist kein Zustand, stellte er fest und steuerte die nächstgelegene seiner liebsten Kneipen an. Was sollte er an diesem Abend schon anderes tun, als zu trinken und die vorhandene Verwirrtheit erst durch eine abnorme Klarheit und diese wiederum wenig später durch stumpfe Blödheit zu ersetzen?
Vor dem Omega, einer Spelunke mit schäbigem Interieur in einem für diese Zwecke viel zu schönen Kellergewölbe, streifte sich Maksymilian den nach wie vor dicht fallenden Schnee von seinen Schultern, rubbelte sein kurzgeschorenes blondes Haar mit einer Hand trocken und blickte umher, bevor er eintrat. Früher waren sie alle gemeinsam dorthin gegangen, vor allem, weil die Kneipe sich gleich unter Mateusz Wohnung befand. Hoffentlich begegne ich ihm nicht.
Erst ging es einen schmalen Gang entlang ins Innere des jahrhundertealten Gemäuers, dann die steinernen Wendeltreppen nach unten. Ein weiteres Mal an diesem Abend geriet Maksymilian ins Stocken, blieb auf halbem Weg hinunter stehen und sah, was sein Geist ihm auf den Treppenansatz projizierte, nämlich Michał, Mateusz und ihn, wie sie Arm in Arm dagesessen und sich schwer atmend, mit Tränen in den Augen und gleichzeitig lachend, von einer Prügelei mit irgendwelchen Idioten ausgeruht hatten. Der arme Mateusz, immer bekam er Ärger. Er und seine große Klappe.
Umgeben vom wohlbekannten modrigen Kellergeruch, langhaarigen Männern und Frauen und dem, was alle hier unten verband, dem laut aus den Boxen dröhnenden Heavy Metal, ließ sich Maksymilian am Tresen nieder, an dem ein Gast bereits mehr hing als saß und Unverständliches in sein lockiges blondes Haar brabbelte – wie es zum Erscheinungsbild einer solchen Bar nun mal dazugehörte – und weitere Musikliebhaber über ihr wichtigstes Thema fachsimpelten.
Um seine aufkeimende Nervosität zu besänftigen und anzukommen, bestellte Maksymilian einen doppelten Haselnusswodka, den er ohne langes Überlegen hinunterstürzte und der seinen Oberkörper auf Anhieb angenehm wärmte. Erst jetzt sah er sich genauer um. Alles war beim Alten geblieben. Wie jeden Mittwoch stand die gute Maja hinter dem Schanktisch, liebevoll und geduldig im Gemüt, ganz im Gegensatz zu ihrem Äußeren, das, so zumindest die Intention, abschrecken sollte. Sie trug ein kurzes schwarzes Spitzenkleid, um die Taille einen Nietengürtel, hatte mehrere Piercings im Gesicht sowie Tattoos an ihren Armen, ihrem Rücken und auch an anderen Stellen, wie Maksymilian sich zu erinnern vermochte.
»Schön, dass du dich wieder mal blicken lässt, Maksio. Wie geht's dir?«
»Fantastisch«, antwortete er, was so viel bedeutete wie Ich will nicht darüber reden. Diesen Code kannte jeder aus seinem Bekanntenkreis. Gut nur, dass so viele Gäste nach einem kühlen Bier oder einem der unterschiedlichen, mit Aromen aller Art versetzten Wodkas lechzten, denn so musste sich Maksymilian an diesem Abend nicht mehr allzu lange mit Maja unterhalten. So würde sie sich nicht von ihm abgewiesen fühlen, was ihm wichtig war, denn er mochte es, dieses zerbrechliche