Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
dass Gilbert gerade an etwas anderes dachte, vielleicht an eine andere Version der Geschichte von Pais Ismendahl.
Kurz darauf erreichten die beiden das alte Stadttor von Fara-Tindu. Früher hatte ein schweres gusseisernes Gitter herabgelassen werden können, sodass die Stadt ungebetene Besucher fernhalten konnte.
Eingerahmt war das Tor von zwei verfallenen Wachtürmen, die je auf einem Steinsockel gebaut waren. Das Holz, aus denen sie bestanden, war allerdings schon ziemlich morsch, obwohl es sich auch um das Jahrhunderte überdauernde Immerfestholz handelte. Antilius folgerte aus seinen Beobachtungen, dass Fara-Tindu in der Vergangenheit eine riesige Festung gewesen sein musste oder ein andersartiger, strategisch wichtiger Ort.
»Hat hier ein Krieg stattgefunden?«, fragte Antilius, während sich die Gondel dem offenen Tor näherte.
»Es war der Ort, an dem der lange und sogenannte Fünf-Königs-Krieg beendet wurde. Ein jahrelanger Krieg. Aber das ist schon ziemlich lange her. So genau weiß ich es auch nicht. Aber wer weiß schon wirklich etwas Genaues über den Königskrieg?«
»Also deshalb gleicht die ganze Stadt eher einer Festung.«
»Ja. Die gesamte Stadt ist von einer Steinmauer umgeben, die allerdings schon halb zerfallen ist, weil ihre Architekten damals unter dem extremen Zeitdruck schlampig gearbeitet haben.«
So abstoßend Antilius das äußere Gesicht der Stadt empfand, so überrascht war er, als sich ihm ihr idyllisches Innere präsentierte.
Die Gondel durchquerte langsam eine lange Gasse, deren Seiten spielerisch gebaute Fachwerkhäuser säumten. Zahlreiche Händler boten ihre Waren am Straßenrand an. Gemüse, Obst, Bier, Kleidung, Schmuck - alles Mögliche wurde verkauft. Kaufwillige gab es genug. Es herrschte reger Betrieb.
Antilius konnte in dem Gewimmel Menschen ausmachen, und er erkannte viele Sortaner, die Haif zum Verwechseln ähnlich sahen. Doch es gab noch andere Spezies, die Antilius nicht kannte. Manche sahen aus wie ein wandelndes Stück Holz, andere eher wie entfernte Verwandte von Vögeln, wieder andere so wie er, nur mit kleinen Unterschieden wie zum Beispiel grünlicher Haut.
Die Tatsache, dass hier derart viele unterschiedliche Wesen dicht gedrängt nebeneinander lebten, erschreckte ihn ein wenig. In seiner Heimat gab es nichts Vergleichbares. Andere Wesen kannte man dort vornehmlich aus Büchern oder von Geschichten. Truchten war in dieser Hinsicht einzigartig.
Der anfängliche Schreck wurde aber schnell durch die aufsteigende Faszination verdrängt.
Die Gondel verlangsamte ihre Geschwindigkeit und parkte in einem Gondelstellplatz, der sich in einem kleinen Hof befand, mitten zwischen den Häusern. Obwohl die rostfreie Amedium-Bahn schon Hunderte Jahre alt war und auch sehr lange Zeit wohl nicht mehr verwendet wurde, hatte niemand in dieser Zeit die Schienen, die in die Stadt führten, demontiert.
Antilius sprang aus seinem Gefährt und lugte noch etwas verunsichert um die Ecke, um das Treiben auf der Verkaufsstraße zu beobachten.
»He! Würdest du mich vielleicht mitnehmen? Ich habe keine Lust, hier alleine zu bleiben und auf den Nächsten zu warten, der meinen Spiegel raubt!« Gilbert schrie so laut, dass einige Passanten stehen blieben und verwundert zur Gondel herüberschauten.
»Ja, ja. Ich habe dich nicht vergessen«, grummelte Antilius zurück. »Kein Grund, hier so herumzubrüllen.«
Antilius nahm den Spiegel aus der Gondel und steckte ihn sich kurz entschlossen in die Hosentasche.
»Halt! Stopp! Was machst du denn da?«, protestierte Gilbert.
Antilius hielt in seiner Bewegung inne. »Was ist jetzt schon wieder nicht in Ordnung?«
»Du kannst mich doch nicht so einfach wegstecken. Ich will auch sehen, was du siehst! So kann ich dir doch nicht helfen!«
Antilius zog den Spiegel wieder aus der Tasche und grübelte, wie er Gilberts Wunsch am besten nachkommen konnte. Dann schaute er auf seinen Gürtel herab und hatte eine Idee. Er steckte den Spiegel mit seinem Griff nach unten in seinen Gürtel, sodass Gilbert nun nichts mehr entgehen konnte und er einen komfortablen Ausblick genießen konnte, wenn auch nicht auf Augenhöhe.
»Ja. So ist es schon viel besser«, bestätigte er.
»Also, wo müssen wir jetzt hin?«, fragte Antilius ungeduldig.
»Um diese Uhrzeit speist Pais für gewöhnlich im Wirtshaus Goldtrank. Es ist das einzige Wirtshaus, das seine Leibspeise zubereiten kann: rohen Tintenfisch! Er wird extra für ihn von der Küste hierher geliefert.«
»Köstlich«, murmelte Antilius angeekelt.
Er bemühte sich daraufhin krampfhaft, das Bild eines rohen Tintenfisches mit seinen glibberigen Tentakeln auf einem Teller aus seinem Kopf zu verdrängen, während er zum Wirtshaus schlenderte.
Zufällig, ohne dass er selbst es bemerkte, lief ein Gorgen an ihm vorbei. Es handelte sich nicht um einen derjenigen, die ihn überfallen hatten. Antilius erkannte das Geschöpf nicht als Gorgen, weil er während des Überfalls letzte Nacht keine Gelegenheit bekommen hatte, einen zu betrachten.
Gilbert aber erkannte sofort, um welche Rasse es sich handelte und ließ es sich nicht nehmen, sich einen Spaß daraus zu machen.
»Feuer!«, schrie er aus Leibeskräften.
Alle Passanten in Antilius’ Nähe blieben abrupt stehen und schauten sich verschreckt um, konnten jedoch das vermeintliche Feuer nicht ausmachen. Natürlich gab es keinen Brand, aber Gilbert wollte dem Gorgen einen Schrecken einjagen, wohl wissend über dessen angeborene Urangst vor Flammen. Während der Gorgen in Panik seine Flügel aufriss und so schnell er konnte davonflog, registrierten die anderen Leute schnell, dass es kein Feuer gab und setzten kopfschüttelnd oder auf den verdutzten Antilius schimpfend ihren Weg fort.
»Was sollte das?«, fragte er ebenso schockiert wie böse.
»Ich wollte dem Gorgen nur einen kleinen Schrecken einjagen. Das sind Mistviecher! Die haben es nicht anders verdient. Ist mir doch gelungen, findest du nicht? Wenn diese Gorgens nicht eine derart ausgeprägte Phobie vor Feuer hätten, wäre ich gestern nicht in der Lage gewesen, sie zu verscheuchen.«
»War das etwa einer der Diebe?«, wollte Antilius wissen und schaute dabei dem davonfliegenden Gorgen hinterher.«
»Nein, der ist harmlos. Bedenke, dass, wer sich in Fara-Tindu aufhält, keine Verbrechen begangen hat. Dafür sorgt die Stadtwache. Frage nicht, wie oder warum. Es ist so.«
»Dann hättest du dir diesen Unsinn ja auch sparen können. Sieh doch nur, wie mich alle jetzt anschauen. Die denken doch jetzt, dass ich ein Verrückter bin.«
»Nun sieh das mal nicht so eng. Das war doch nur ein harmloser Spaß«, beschwichtigte Gilbert.
Doch Antilius’ Sorge schien berechtigt gewesen zu sein. Aus dem Getümmel trat plötzlich eine große Gestalt in grauer Uniform mit einem polierten silbernen Brustschild heraus, um ihn abzufangen.
Ein scharfer, angsteinflößender Blick fiel auf ihn herab und fixierte ihn. Es war eine der Stadtwachen.
»Na toll«, murmelte Antilius.
Die Wache blieb ein paar Zentimeter vor ihm stehen und baute sich vor ihm auf, um sich noch ein wenig größer zu machen, obwohl dies völlig unnötig war, denn sie war ohnehin etwa drei Köpfe größer als er.
»Bei der Ehre unserer heiligen Stadt Fara-Tindu! Was sollte dieses Geschrei?« Die Stimme der Wache war äußerst tief und durchdringend, sodass Antilius kurz zusammenzuckte.
»Ich war das nicht! Mein Freund hier dachte, er könne sich einen kleinen Spaß erlauben«, sagte Antilius mit zittriger Stimme und zeigte dabei auf seinen Spiegel, der immer noch in seinen Hosengürtel geklemmt war. Die Augen der Wache folgten ungläubig seinem Fingerzeig. Doch in diesem Moment schien die Sonne so unglücklich auf die Spiegeloberfläche, dass das Licht vom Glas reflektiert wurde und man das Innere nicht sehen konnte. Danach schaute die Wache Antilius wieder ins Gesicht, mit einem noch düstereren Blick als zuvor. Er war überrascht,