Kullmann und das Lehrersterben. Elke Schwab

Kullmann und das Lehrersterben - Elke Schwab


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die ihn gefunden haben, sind nicht wirklich eine Hilfe für uns. Es waren einfach zu viele. Sie gehören zur Oberstufe, also zu den älteren, was es für uns noch schwieriger macht.«

      »Warum das?« Schnur stutzte.

      »Na ja. Die waren nicht wirklich geschockt, sondern eher aufsässig, wollten keine Fragen beantworten und haben sich einfach aus dem Staub gemacht«, antwortete Esther.

      »Wer war bei dir, als du versucht hast, mit ihnen zu sprechen?«

      Esther schaute sich um, bis sie einen Mann mit wilden schwarzen Locken erblickte. »Anton Grewe«, antwortete sie.

      »Wo ist Horst Hollmann?«, fragte Schnur. »Wir sind zurzeit unterbesetzt, da können wir uns keine weiteren Ausfälle erlauben.«

      »Horst Hollmann ist im Rahmen seiner Übernahmeausschreibung zum Kriminaldienst dabei, seinen Durchlauf bei den verschiedenen Abteilungen zu machen. Seine derzeitige Abteilung ist Entführung, Erpressung, Geiselnahme. Seit heute.«

      »So ein Mist! Gerade jetzt, wo wir Leute brauchen.«

      »Dafür hat uns Kriminalrat Forseti schon mit Leuten versorgt.«

      »Danke, dass du mich daran erinnerst.« Schnur verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

      Er richtete seinen Blick wieder auf den Toten, was auch nicht gerade dazu beitrug, seine Laune zu verbessern. Der Unterkörper war mit einem Tuch zugedeckt worden. Der Gerichtsmediziner Dr. Thomas Wolbert richtete sich gerade auf, nachdem er seine vorläufige Untersuchung beendet hatte.

      »Wie lange ist Bertram Andernach schon tot?«, fragte Schnur.

      »Ich würde sagen, zwischen sechs und acht Stunden«, antwortete Wolbert nach einigem Zögern.

      »Ist er an der Strangulation gestorben? Oder war er schon vorher tot?«

      »Die Frage habe ich befürchtet. Dazu will ich erst etwas sagen, wenn ich ihn genau untersucht habe«, wich der Gerichtsmediziner aus.

      »Aber einen Hinweis wirst du doch haben«, drängte Schnur weiter.

      Wolbert zögerte, bevor er zugab: »Ich möchte mich nicht vorschnell festlegen.«

      »Es wäre aber sehr hilfreich für uns. Umso schneller könnten wir mit den Ermittlungen beginnen.«

      »Ich würde sagen, er wurde lebendig aufgehängt.«

      Kapitel 8

      Der Bus wackelte immer bedrohlicher. Doch das alles schien Mathilde Graufuchs nicht wahrzunehmen. Die Schüler brüllten immer lauter, ihre Hyperaktivität steigerte sich mit jedem Meter, den sie sich der Teufelsburg in Felsberg näherten.

      Mathilde Graufuchs sah nur immer wieder das grässliche Bild von Bertram Andernach. Wie er da hing. Mit heruntergelassenen Hosen. Große Scham überkam sie. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Bertram Andernach, der korrekte Lehrer, immer rechtschaffen und fleißig. Ein Mann, der noch für die guten alten Werte stand – Werte, die in der heutigen Zeit im Morast der Zügellosigkeit, der Grenzenlosigkeit und Ausschweifungen völlig untergingen. Bertram Andernach hatte der Generation angehört, die noch wusste, was im Leben zählte: Ordnung und Disziplin. Die Generation, der Mathilde Graufuchs ebenfalls angehörte. Auch sie gab sich jede erdenkliche Mühe, die Jugendlichen von Moral und Pflichtbewusstsein zu überzeugen. Zusammen mit Kollegen wie Bertram Andernach hatte sie sich immer stark gefühlt, hatte in ihrem Lehrauftrag eine Chance gesehen. Doch wie ging es jetzt weiter? Nach dem, was in der Schule passiert war? Mit aller Heftigkeit trat der Anblick des Toten vor Mathilde Graufuchs’ Augen. Bertram Andernach in einer erniedrigenden Pose. Ein Mann, der immer alles für die Etikette getan hatte.

      Ihr Atem ging schwer. Sie hatte alle Mühe, ihre Gefühle zu unterdrücken. Zum Glück war es ihr trotz katastrophaler Zustände in der Schule gelungen, ihre Klasse voller elfjähriger Kinder in den Schulbus zu dirigieren, bevor sie Gelegenheit bekommen hatten, dieses furchtbare Bild des toten Lehrers mitanzusehen. Der Schulausflug für diesen Tag hätte nicht besser geplant werden können.

      Sie verstand nicht, warum der Lehrer schutzlos den Blicken der vielen Schüler ausgesetzt worden war. Vermutlich war der Hausmeister seiner Pflicht nicht nachgekommen – die Kontrolle aller Gebäude vor Schulbeginn. Dieser Ernst Plebe! Ein Schnauben ging über ihre Lippen. Der hatte ohnehin nur zwei Dinge im Kopf: die Köchin und das Essen. Eine geschickte Kombination, das musste Mathilde Graufuchs ihm lassen. Aber es gehörte mehr dazu, Hausmeistertätigkeiten gewissenhaft zu erledigen. Nämlich Verantwortungsgefühl. Und darüber verfügte Ernst Plebe offensichtlich nicht. Vermutlich war er im Rahmen dieser Ein-Euro-Jobs eingestellt worden.

      »Wir sind da. Bitte aussteigen!«, ertönte es über den Lautsprecher im Bus. Mathilde Graufuchs schaute erschrocken auf. Sie waren tatsächlich schon am Ziel.

      »Wo ist die Teufelsburg?«, riefen die Kinder ganz außer sich.

      »Ich kann ja gar nichts sehen!«

      »Müssen wir noch weit laufen?«

      Mathilde Graufuchs stieß einen spitzen Schrei aus. Augenblicklich war alles still.

      »Jeder auf seinen Platz!«

      In Sekundenschnelle huschten die Kinder auf ihre Sitzplätze. Mathilde Graufuchs ging nach vorne zum Busfahrer, um mit ihm den weiteren Tagesablauf zu besprechen. Erst anschließend durften die ungeduldigen Kinder aussteigen.

      Doch auch draußen gewährte die strenge Lehrerin ihnen keine Freiheiten. Mathilde Graufuchs’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Aber die Pflicht ging vor, sagte sie sich immer wieder. Das Lehrprogramm hatte Vorrang. Die Kinder mussten zur Disziplin erzogen werden.

      »Wir gehen jetzt in Reih und Glied in diese Richtung!« Sie zeigte auf einen Waldweg, der außer Bäumen und Sträuchern keine Besonderheiten aufwies.

      Der Marsch ging los. Schon nach der ersten Kurve trafen sie auf einen Holzschuppen. Die Kinder eroberten den Verschlag, doch er war leer. Enttäuscht setzten sie ihren Weg fort. Schon nach der nächsten Kurve sahen sie sie.

      Die Teufelsburg … oder das, was noch davon übrig war.

      Ein großes schmiedeeisernes Gittertor versperrte den Weg. Links daneben führte ein kleiner Eingang zum Kassenhäuschen. Dort meldete sich Mathilde Graufuchs mit ihrer Klasse an.

      An der Kasse saß ein Mann, dessen Namensschild ihn als Fred Recktenwald auswies.

      Mathilde Graufuchs schaute in sein Gesicht. Er trug seine grauen Haare viel zu lang. Sie fielen ihm in die Augen, sodass sie ihn nicht richtig erkennen konnte. Und doch überkam sie das Gefühl, diesen Mann zu kennen.

      »Machen Sie die Führung?«, fragte sie.

      »Ja!«

      Damit war der erste Dialog beendet.

      Die Schulklasse hatte sich bereits an der Lehrerin vorbeigedrängelt und rannte wild schreiend auf die alte Burgruine zu. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es versprach, ein heißer Tag zu werden. Mathilde Graufuchs schnaufte und fächelte sich Luft zu. Sie spürte Fred Recktenwalds prüfende Blicke nicht.

      Kapitel 9

      Bunte Farben sprangen sie von den Wänden an. Dazu große Augen von Tierköpfen, umgeben von Menschen, Gesichtern, Häusern und Blumen. Chagall.

      Erst bei genauem Hinsehen erkannte Schnur, dass es Reproduktionen waren.

      »Ich und das Dorf«, zitierte der Kriminalkommissar zur Begrüßung.

      Der Schulleiter Dr. Norbert Franzen hob seinen schmächtigen Körper aus dem bequemen Stuhl, um die beiden Herren zu begrüßen. »Ein Kriminalkommissar mit Allgemeinbildung – mit Allgemeinbildung«, näselte er in einem Tonfall, der in Erik sofort Antipathie auslöste.

      »Ich bewundere die Kunst von Chagall«, gab Schnur zu. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«


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