Mythos, Pathos und Ethos. Thomas Häring
Lebens. Der Führer gurrte süßlich wie eine Friedenstaube, wenn er mit dem Ausland korrespondierte, im Inland hielt er die Zügel straff und fest in der Hand, wir hatten alle gut zu tun und waren stolz auf unsere glorreiche Nation. Es ging wieder aufwärts und wir wußten nur zu gut, wem wir das zu verdanken hatten. Den Juden bestimmt nicht, denn die konnte unser Führer überhaupt nicht leiden, warum auch immer, jedenfalls hatte er was gegen die und weil er sie nicht mochte, behandelten auch wir sie so schlecht wie möglich, obwohl sie uns früher ziemlich egal gewesen waren. Für die Juden wurde es immer ungemütlicher im Deutschen Reich, was uns nichts ausmachte, denn wir hatten unseren Ariernachweis, der bewies, daß wir ein Teil der Herrenrasse, die über die ganze Welt herrschen sollte, waren. Von daher hatten wir es ziemlich gut erwischt, ich für meinen Teil sah auch nicht schlecht aus und weil ich als Kind viele Jahre lang dank meiner Mutter gelernt hatte, wie Mann mit Frauen umgehen mußte, erzielte ich bei der Damenwelt beachtliche Erfolge. Mein Charme war legendär, Scham kannte ich nicht und so feuerte ich aus allen Rohren, noch lange bevor der Zweite Weltkrieg begann. Das Problem an der Sache bestand lediglich darin, daß sich manche meiner Freundinnen relativ ähnlich sahen, weil ich scheinbar auf einen ganz bestimmten Typus Frau abfuhr, also ähnlich wie heutzutage der Maurice Mecker oder der Dietmar Kohlen, nur halt nicht auf so Mischlinge wie die, das wäre seinerzeit auch völlig undenkbar und überhaupt nicht gern gesehen gewesen, als abartige Rassenschande hätte man das bezeichnet.
Wie auch immer, ich brachte leider des Öfteren die Namen der Frauen durcheinander, was mir durchaus peinlich war, aber letzten Endes konnte ich auch wirklich nichts dafür, wieso mußten sich die blöden Weiber denn auch so ähnlich sehen? Mit der Zeit lernte ich aus meinen Fehlern und hielt mir deshalb nie mehr als drei Freundinnen auf einmal. Das konnte ich gerade noch so bewerkstelligen, weshalb die Frauen auch nichts voneinander erfuhren. Meine Freunde, die wie ich NSDAP-Mitglieder waren und genauso wie ich auf einen Aufstieg in der Partei hofften, bewunderten mich für meine Redekunst, amüsierten sich aber auch über meine Weibergeschichten und genossen es, mich damit erpressen zu können. Beruflich hatte ich es in jenen Jahren noch nicht sonderlich weit gebracht. Zwar war ich immerhin vom einfachen Fabrikarbeiter zum Blockwart aufgestiegen, aber so richtig Karriere gemacht hatte ich nun wahrlich nicht. Nichtsdestotrotz lobte ich den Führer in den allerhöchsten Tönen, was mir sowohl Anerkennung als auch Verachtung einbrachte. Meine Mutter zum Beispiel wollte deshalb schon längst nichts mehr von mir wissen, ich aber über sie viel mehr, weshalb ich sie von der Gestapo bespitzeln ließ. Irgendwann wurde sie von jener abgeholt und in ein Lager gebracht, aber mein Mitleid hielt sich in Grenzen, denn das hatte sie sich alles selbst zuzuschreiben. Wer nicht mit der Zeit geht, der muß halt mit der Zeit gehen, lautete das Motto jener Jahre und auch die Bücherverbrennungen stießen bei mir und meinesgleichen auf ein freudiges Echo und Hallo, denn auf die Art und Weise war der jüdische Schund wenigstens noch zu was gut, nämlich zu einem schönen, wärmenden Feuerchen, lesen konnte und wollte man den Scheiß eh nicht.
Wie bereits erwähnt, für die Juden wurde es immer unangenehmer, manche von denen waren schlau und reich genug, um ins Exil zu gehen, andere glaubten wiederum, alles wäre halb so schlimm und würde irgendwie vorübergehen. Na ja, wir Deutschen feierten uns und unsere Führung bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin und als es damit begann, mehr Lebensraum zu geben, durch den Anschluß Österreichs, der Annexion von Böhmen und Mähren, sowie die Zerschlagung der Tschechoslowakei, da wußten wir endgültig, daß wir auf das richtige Pferd, also den Führer Adolf Hitler, gesetzt hatten.
Der Antisemitismus als solcher war ja schon lange verbreitet und tief in vielen Völkern verankert, der entstand keineswegs von heute auf morgen. Hitler wußte das, nutzte die Gunst der Stunde und entfachte die lodernde Glut. Daß wir Deutschen uns für die Drecksarbeit einen Ausländer geholt hatten, weil wir uns selbst unsere arisch reinen Finger nicht schmutzig machen hatten wollen, sprach vielleicht nicht gerade für uns, zeugte aber irgendwie dennoch von einer bemerkenswerten Weitsichtigkeit. Auf die Art und Weise konnten wir nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg die ganze Verantwortung und Schuld auf den Österreicher schieben, unsere Hände in Unschuld waschen und danach genauso weitermachen wie vorher. Wir erteilten uns alle gegenseitig die Absolution und damit hatte es sich dann auch schon. Doch bevor es dazu kam, erst einmal auf in den Kampf. Ich für meinen Teil hatte "Mein Kampf" schon vor dem Ausbruch des Krieges mehrere Male gelesen und war begeistert gewesen. Meiner Meinung nach hätte Hitler dafür den Literaturnobelpreis erhalten müssen und wenn dem so gewesen wäre, dann hätte er die Welt womöglich verschont. Na gut, zugegeben, das vielleicht nicht, aber wer sein Werk aufmerksam studiert hatte, der wußte ganz genau was kommen würde. Entweder hatte man den Adolf völlig unterschätzt, nicht ernst genommen, für einen Sprücheklopfer gehalten, oder, noch schlimmer, sein Meisterwerk überhaupt nicht gelesen, obwohl doch in jedem deutschen Haushalt mindestens eins davon zu finden war. Ich für meinen Teil wußte schon längst, daß Führer oder später die Revanche für den verlorenen Ersten Weltkrieg beginnen würde, von daher hielt sich meine Überraschung in den Grenzen von 1913, als es dann wirklich soweit war. Auf an die Front, hipp hipp, hurra!
Um Hitler wirklich zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß der Mann eigentlich ein Künstler und kein Politiker gewesen war. Ihn interessierte nicht die Macht des Möglichen, sondern lediglich die Möglichkeiten der Macht. Er war ein Radikaler in seinem ursprünglichen Sinn, einer, der das Übel, in seinem Fall den jüdischen Bolschewismus, bei den Wurzeln packen und ausreißen wollte. Für Hitler war der Krieg die Fortführung des Friedens mit anderen Mitteln. Ja, es war keine schöne Zeit an der Front und es machte auch keinen Spaß, andere Leute zu erschießen, selbst wenn es sich bei jenen nach unserer Ideologie um Untermenschen handelte. Außerdem verstand ich auch nicht, warum wir uns mit den Russen verbündet hatten, um untereinander Polen aufzuteilen. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache, schließlich hatte uns "Onkel Adolf", wie wir ihn hinter verschlossenen Türen manchmal liebevoll nannten, jahrelang eingetrichtert gehabt, die Russen wären die leibhaftigen Bösen, die uns vernichten wollten. Na ja, da konnte man schon durcheinander kommen, bei jener sich ständig verändernden Gemengelage. Wir machten das Beste daraus, versuchten zu überleben und ballerten was das Zeug hielt. Unsere ersten Kriegseinsätze waren Kinderspiele, wir wollten Gegner, keine Opfer, aber dafür waren wir einfach zu stark und noch dazu vollgepumpt mit Drogen. Wir überrannten halb Europa im Sauseschritt und waren noch begeisterter von unserem Führer, der es mittlerweile bereits zum GröFaZ gebracht hatte, zum Größten Feldherrn aller Zeiten, als ohnehin. Doch so richtig euphorisiert und erleichtert waren wir erst, als der Überfall auf die Russen begann, denn nun war unsere schöne braune heile Welt endlich wieder in Ordnung und der wahre Feind durfte wieder bekämpft werden.
Doch mit der Zeit schien sich das Kriegsglück zu wenden und auch unser Über-Führer machte nicht mehr immer die allerbeste Figur. Dafür konnte er aber rein gar nichts, denn schuld daran waren zum einen die ausländischen Spione sowie die Exil-Juden, Exil-Sozialdemokraten, Exil-Kommunisten, Exil-Gewerkschafter und wen wir sonst noch so aus unserem schönen Deutschen Reich, das laut Adolf 1000 Jahre dauern sollte, vertrieben hatten. Aber am allerschlimmsten war der Widerstand innerhalb der deutschen Wehrmacht und dafür trugen diese Adeligen die Hauptverantwortung. Jene waren mir schon von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen, diese Snobs mit ihrem feinen Getue, ihren Manieren und ihrer Ehre. Solange wir unsere Schlachten gewannen, konnte man ihnen nichts anhaben, doch dann wurden sie immer dreister und ihre Sabotageakte, kombiniert mit dem Widerstand der hiesigen Partisanen in den jeweiligen besetzten Gebieten, sorgten dafür, daß wir immer mehr Probleme bekamen. Der Führer hätte sich von jenen Parasiten schon viel früher trennen müssen, er aber zögerte und zauderte, wie es anscheinend leider des Öfteren bei ihm Usus war und so verübten sie auch noch ein feiges, hinterhältiges Attentat auf den großartigen Mann, den die Vorsehung für uns ausersehen hatte. Wenigstens zog er danach alle nötigen Konsequenzen und machte dem Adel in der Wehrmacht den Garaus. Besser spät als nie, aber in dem Fall hätte sich der Führer schon früher vorsehen müssen, vor solchen Kreaturen, die ihn von Anfang an für einen Emporkömmling gehalten und deshalb immer belächelt hatten. Feige Schweine waren sie allesamt gewesen, nach dem Krieg wurden sie zu Helden erklärt, aber alle, die wie ich, tapfer und ehrlich gegen den Feind gekämpft haben, anstatt mit ihm zu kollaborieren, wissen, was man von solchen Kameradenschweinen zu halten hat.
Krieg geil!, rief niemand von uns, nicht umsonst hatte unser Schlachtruf ja immer Sieg Heil