Aus dem Schatten meines Borderliners. Betty Paessler
war der eigentliche Weg zur Passage offen und weitläufig, jedoch höher gelegen, so dass man entweder mit der Rolltreppe oder aber über eine Treppe hinaufmusste. Von der Straße aus war die Passage nicht einsehbar. Um zu Christian zu kommen, musste ich also durch eben diese Einkaufspassage. Das Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, lag nur ein paar Schritte von der Passage entfernt und durch eine blickdichte Hecke von ca. 2 Metern Höhe getrennt.
Da die Rolltreppe an diesem Morgen nicht in Betrieb war, nahm ich also die Treppe und wurde beim Hinaufgehen von einem Mann überholt. Auf meinem weg durch die Passage wechselte sich die Position von mir und dem Mann ein paar Mal ab. Mal lief er vor mir, mal hinter mir. Kurz vor Ende der Passage musste ich nach rechts abbiegen, um zwischen den hinteren Geschäften hindurch zu Christians Haus zu gelangen. Zu dieser Zeit lief der Mann hinter mir.
Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Hecke, als der Mann mich ansprach.
„Hallo, entschuldige bitte“, sagte er in einem eigentlich sehr freundlichen Ton zu mir, weswegen ich stehen blieb und mich zu ihm umdrehte. Was ich dann jedoch sah, verschlug mir kurzzeitig die Sprache.
Mit bis zu den Oberschenkeln heruntergelassenen Jeans stand er mit sehr erregtem Glied vor mir.
„Hast du einen Moment Zeit für mich?“ fragte er.
„NEIN“, schrie ich ihn an, drehte mich um und rannte die vielleicht 100 Meter zu Christians Haustür, um dort Sturm zu klingeln. Erwähnen möchte ich noch, dass diese Stelle, an der dieser gestörte Mensch mich ansprach, vom Haus aus nicht einsehbar war. Zum einen befand sich die Hecke in Sichthöhe der unteren Fenster im Erdgeschoss. Zum anderen verdeckte das weit überstehende Flachdach der Geschäftsgebäude den Fußgängerbereich. Selbst wenn jemand um diese Uhrzeit aus dem Fenster gesehen hätte, wäre unbemerkt geblieben, was mir in diesen wenigen Augenblicken widerfuhr und mich zutiefst verstörte.
Was danach geschah ist eine Mischung aus eigenen Erinnerungen und zudem den Erzählungen und Gesprächen mit meiner damaligen Lehrerin, Christian und der leitenden Kripobeamtin, die die Mutter meines Klassenkameraden Axel war. Ich kannte sie von Besuchen bei ihm zu Hause. Dieser Umstand machte es mir, um ein Vielfaches einfacher von dem Geschehen zu berichten und ich würde mir für alle Mädchen und Frauen, die in eine ähnliche oder gar schlimmere Situation wie ich kommen, wünschen, dass auch sie so voller Verständnis und Behutsamkeit behandelt werden würden. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass sie mir nicht glaubte. Ihr konnte ich vertrauen. Sie hörte mir zu. Sie war es auch, die meine Hand hielt …
Aber zurück zu dem unvergesslichen Moment und die Zeit danach.
Von dem Augenblick an, als Christian aus dem Haus kam umklammerte ich seinen Arm und ließ ihn auf dem ganzen Weg zur Schule nicht mehr los. Jahre später erzählte er mir, dass er mich damals ziemlich gruselig fand. Ich wäre weiß gewesen, wie eine Wand und hätte nicht ein Wort gesprochen. Nur festgehalten hätte ich ihn. So sehr, dass ihm das Laufen schwergefallen sei.
Ich soll dann mit starrem Blick und völlig abwesend und teilnahmslos im Unterricht gesessen haben. Plötzlich sei ich aufgestanden und wortlos aus dem Klassenzimmer gelaufen. Da erzählte ihr Christian, dass ich mich am Morgen so eigenartig verhalten hätte.
Meine Lehrerin fand mich dann heulend und zusammengekauert auf dem Boden der Mädchentoilette und es muss einige Zeit gedauert haben, bis sie mich dazu bewegen konnte, die Toilette wieder zu verlassen.
Mein Vater wurde informiert und gebeten, sofort in die Schule zu kommen, da ich mich einfach nicht beruhigen ließ. Meine nächste eigene Erinnerung ist dann, dass ich gemeinsam mit meinem Vater, meiner Lehrerin und der Frau L., der Kripobeamtin, im Lehrerzimmer saß. Ich wurde befragt und sollte die Vorgänge vom Morgen so detailliert wie möglich schildern. Ich musste mir sogar Fotos von Männern in einem Ordner ansehen. Jedoch hatte ich keinerlei Erinnerung an sein Gesicht. Nur an seine Jeanshose konnte ich mich erinnern. Denn jedes Mal, wenn er vor mir ging, konnte ich das Muster auf seinen Gesäßtaschen sehen. Ganz am Rande habe ich damals noch wahrgenommen, dass dieser 'Mensch' bereits mehrfach in Erscheinung getreten wäre und Mädchen in unserer Umgebung angesprochen hätte.
Wie lang diese Befragung andauerte, vermag ich heute nicht einmal mehr annähernd zu sagen. Auch wie dieser Tag weiterging, erschließt sich mir nicht wirklich. Ich meine mich zwar daran zu erinnern, dass mein Vater mich mit nach Hause nahm, aber danach: absolute Leere...
Doch jetzt und hier beim Niederschreiben, kehren die Erinnerungen nach und nach zurück.
So weiß ich jetzt wieder, dass ich einen 'Schatten' bekam, der mich in Person eines Zivilpolizisten für einige Zeit morgens von zu Hause abholte und meinen Weg zur Schule überwachte. Auch auf dem Nachhauseweg war er eine Zeitlang in meiner Nähe.
Nach dem ersten Morgen wurde ich direkt ins Lehrerzimmer gerufen, wo ich mir einen ziemlichen Rüffel abgeholt habe. Denn ich bin, weil ich immer noch ziemlich durch den Wind war und auch Angst hatte, wohl viel zu schnell gelaufen, so dass sich der Polizist meinem Schritt anpassen musste. Direkt gesagt, musste er mir schon fast hinterherrennen, was natürlich alles andere als unauffällig war. Ich versprach Besserung und von da an blieb es auch verhältnismäßig ruhig. Diese ganze 'Beschatterei' dauerte ca. eine Woche, in der glücklicherweise auch nichts geschah.
Aber wieder einmal sprach zu Hause niemand mit mir über das Geschehene. Ein weiteres Mal blieb ich mit meinen Gefühlen und Ängsten allein.
Ein paar Jahre nach Verlassen der Schule habe ich Axel, den Sohn der Kripobeamtin, auf einem Klassentreffen wiedergesehen. Und auf meine Frage, wie es seiner Mutter ging, erzählte er mir, dass 'der Typ aus den Gropiuspassagen' tatsächlich auf frischer Tat gefasst werden konnte.
Ende gut, alles gut? - Nicht wirklich!
Zwar hat er mich nicht berührt, aber der psychische Übergriff war sehr heftig und noch heute passiert es mir, dass ich beim Fernsehen oder in den Nachrichten auf gleichartige Begebenheiten oder sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen emotional so heftig reagiere, dass ich manchmal das Zimmer verlassen muss, um mich wieder zu beruhigen. Lange Zeit habe ich mich geschämt und die Schuld für mein Erlebnis bei mir gesucht. Und niemand hat damals auch nur versucht, mich davon zu befreien. Niemand in meiner Familie hielt es für notwendig, mich einer Psychologin oder einem Psychologen vorzustellen, um das Erlebte aufzuarbeiten.
Wieder einmal kam in mir das Gefühl auf, dass ich schuld an dem war, was passiert ist. Und das mich niemand mehr liebhätte, würde ich um Hilfe bitten. Sie würden mich doch für schwach halten.
Ich wollte doch nur, dass einer von ihnen die dunklen Träume in der Nacht für mich verscheuchte.
Doch ich blieb wieder einmal mit meinen Ängsten, Sorgen und Nöten allein.
Nie glücklich ist,
wer ewig dem nachjagt,
was er nicht hat,
und was er hat, vergisst.
(Shakespeare)
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