Düstere Märchen. Andrea Appelfelder
schüttelte den Kopf. „Sie ist merkwürdig. Ich kann dir aber noch nicht sagen inwiefern. Es ist einfach nur so ein Gefühl, was sich meiner bemächtigt und mich an die Zeit bei meinen Eltern erinnert hat.“
Die Beiden sahen sich noch kurz an und wiesen den Kutschern und deren Helfern den Weg ins Zimmer der neuen Hausherrin. Einige Koffer wurden in ihr Zimmer getragen, wieder andere, darunter die größten wurden in den Keller verbracht. Nachdem die Arbeit der Helfer erledigt war und sie bezahlt worden waren, verließen sie das Haus wieder.
Die drei Männer waren im Esszimmer versammelt und warteten auf das besondere Essen, was ihnen die Herrin am Tag ihrer Ankunft versprochen hatte. Sie war schon über drei Stunden in der Küche, doch als die Männer schon begannen unruhig zu werden, servierte sie ihre zubereiteten Speisen.
Der Tisch füllte sich immer mehr, aber der Vater blickte sich verwundert um. „Es sieht alles sehr lecker aus und du hast dir wirklich mühe gegeben, aber warum gibt es nichts Richtiges zu essen, nur Kuchen, Torten, Lebkuchen und Kekse. Das ist doch alles so ungesund und du weißt doch, dass ich so was nicht mag.“
Es stimmte, was der Mann sagte, alles, was seine Frau auch noch auf den Tisch stellte, waren nur süße Leckereien. Sie ignorante aber die Frage, setzte sich auch an die Tafel und forderte alle zum Essen auf.
Hensel und Gretel weigerten sich, etwas davon zu essen, da es vor Zucker strotzte. Hensels Vater nahm etwas davon zu sich, da er seine Frau nicht kränken wollte. Sie wiederum fühlte sich ungerecht behandelt und weinte darüber, da die beiden jungen Männer nicht einmal ihr Essen probierten.
Hensel hatte nach diesem Vorfall große Probleme mit dieser Frau überhaupt ein Wort zu wechseln, da sie die ganze Zeit nur darüber redete, was sie sich wünschte und dass sein Vater ihr komischerweise sofort alles versprach, als wäre er von ihr wie verhext. Sie beanspruchte sogar den Keller für sich, um sich, wie sie es nannte, dem Heilpflanzenstudium zu widmen. Darüber freute sich Hensels Vater allerdings, da er darin seine verstorbene Frau wiedererkannte.
Aber trotz dieser Tatsache versuchte Hensel sich mit ihr zu verstehen, schon allein wegen seines Vaters. Als er sie noch einige Male im Vorbeigehen musterte, fiel ihm auf, dass die Frau, die gerade noch so jung wirkte, nun einige Falten bekommen hatte, die sie eben noch nicht gehabt hatte.
Er überlegte und begann sie sarkastisch auszufragen. „Oh Stiefmutter, ich weiß, dass man eine Dame so etwas nicht fragt, aber ich möchte schon gerne wissen, wie alt du denn eigentlich bist?“
Die Frau, der die Frage sichtlich unangenehm war, antwortete kurz angebunden: „Dreiundzwanzig Jahre.“
Hensel wunderte sich: „Ah, da bist du doch jünger als Gretel, aber Vater hatte mal erzählt, dass du Mitte dreißig bist. Aber vielleicht hat er das nicht richtig verstanden, du siehst schließlich auch sehr jung aus, aber ich weiß nicht wie ich es sagen soll, irgendwie passt dies nicht überein. Immerhin hast du schon einige tiefe Falten am Hals. Wie kann das sein?“
Die Frau verzog das Gesicht, versuchte aber sichtlich ruhig zu bleiben: „Was redest du da? Ich habe keine Falten. Ich bin makellos und natürlich erst Anfang zwanzig.“
Nun mischte sich der Vater ein, der gerade auch vorbeigelaufen war und das Gespräch gehört hatte. „Aber er hat recht, Schatz, du hast mir erzählt, das du Mitte dreißig bist und du hast wirklich einige Falten am Hals. Aber das ist nicht schlimm, ich bin auch nicht mehr der Jüngste und jeder wird einmal alt. Du musst doch bei deinem Alter nicht schwindeln.“
Die Gesprächspartnerin wurde auf einmal bleich und flüsterte: „Verzeih mir Schatz. Ich weiß, jeder wird einmal alt. Jeder außer mit mir.“
Keiner schien sie richtig zu hören. Kurz darauf verschwand sie, ging aber noch zu ihrem Mann und küsste ihm auf die Stirn. „Ich möchte den Rest meiner Sachen auspacken und gehe hinunter in den Keller.“
Nach diesen Worten war sie auch schon verschwunden. Die beiden verbliebenen Männer konnten sich nur anschweigen über das eigenartige Verhalten der neuen Mutter.
Es war mittlerweile Nacht geworden und Stille ging durch die Gänge des weitläufigen Anwesens, denn alles schien zu schlafen, doch plötzlich durchbrach ein Schrei die Stille.
Hensel schrak auf und stürzte aus dem Bett. Er trat nur im Schlafanzug und Bademantel begleitet aus seinem Zimmer und horchte in die Dunkelheit hinein, aber es blieb still.
Er wanderte zwei Zimmer weiter und klopfte an die Tür. Nach einigen Minuten öffnete Gret, nur in einer leichten Hose bekleidet, die Tür, augenscheinlich hatte er auch geschlafen. „Hensel, was hast du denn? Es ist schon spät und du solltest schlafen.“
Der junge Mann sah etwas eingeschüchtert aus. „Diesen Schrei, hast du den nicht gehört?“ Sein Gegenüber schüttelte mit dem Kopf. „Nein, da war nichts. Das hast du bestimmt nur geträumt. Außerdem weißt du doch, dass das Haus bei Dunkelheit gruselig sein kann. Vielleicht war es das Knarren einer Tür?“
Der Blauäugige wirkte verwirrt. „Nein, nein, es hat ein kleines Kind weit weg, aber trotzdem im Haus, geschrien. Ich meine es schien mir so real.“ Gret umarmte den Verängstigten und streichelte seinen Rücken. „Mein armer, kleiner Bruder, alles ist doch gut. Willst du bei mir schlafen, so wie früher als du auch Alpträume hattest und dein Vater auf Reisen war?“
Hensel nickte etwas schüchtern und ließ sich von seinem Freund in dessen Zimmer führen. „Du hast wirklich nichts gehört?“ Gret lächelte. „Es war bestimmt nur ein böser Traum. Komm, lass uns jetzt schlafen gehen.“
Mittlerweile war eine Woche seit dem Vorfall in der Nacht vergangen. Der Vater hatte sich mit seiner Frau gut eingelebt, auch wenn er irgendwie verändert wirkte und sie fast die gesamte Zeit im Keller verbrachte. Gret und Hensel hatten sich währenddessen im Hintergrund gehalten und hatten sich beide ihren Studien gewidmet und waren nur noch mehr zusammengewachsen. Das ging so lange bis sich der Vater auf Geschäftsreise begab und seine Familie sich selbst überließ.
Die beiden Jungen waren gerade dabei, die angefallenen Hausarbeiten zu erledigen, da die neue Frau im Haus, seit der Vater fort war, nur noch Süßigkeiten herstellte, sich im Keller verbarg und sich um nichts anderes kümmerte. „Gret, was meinst du tut sie dort unten? Ich kann sie oft dort unten schreien hören. Manchmal ist es so als würde sie jemanden anschreien und manchmal kommt es mir so vor als würde sie vor Schmerzen schreien.“
Gret hielt in seiner Tätigkeit inne. „Ich kann es dir auch nicht beantworten. Doch mit diesen Geräuschen muss ich dir zustimmen. Aber irgendwie will ich gar nicht wissen, was sie tun. Vielleicht führt sie ihre Heilpflanzen-Experimente an unschuldigen Tieren durch? Allerdings sollten wir wohl aber definitiv mit deinem Vater reden, wenn er wieder da ist. Sie ist eigenartig und seitdem er nicht mehr da ist, ist es mit ihr schlimmer geworden. Außerdem behandelt sie uns wie ihre Diener, ich bin ja an diese Arbeit gewöhnt, aber du bist der Sohn des Hausherrn. So darf sie mit dir doch nicht umgehen!“
Hensel stellte nun auch den Besen, den er bis eben benutzt hatte, an die Wand. „Das geht schon, aber du hast recht, wir müssen es Vater sagen. Weißt du, ich kann auch ihre Begrüßung nicht mehr vergessen. Vielleicht sollten wir...“
Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, kam die Frau, die Gesprächsthema Nummer eins bei den beiden war, hinein. „Hey, ihr Schnatterenten, ihr sollt doch nur die Küche putzen, nicht euch das Maul über unschuldige, zarte Damen zerreißen. Das werde ich alles deinem Vater erzählen. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Aber jetzt gehst du Diener erst einmal in die Stadt auf dem Markt einkaufen. Ich brauche wieder neue Zutaten für meine Tinkturen und Kuchen und du Junge putzt den Flur und die Kellertreppen. Die sind sehr schmutzig und geh bloß nicht in den Keller hinunter. Dort führe ich meine Forschungen mit meinen Heilpflanzen durch. Die Tinkturen, die ich herstelle, sind sehr lichtempfindlich. Sollte ich dich im Inneren erwischen, werde ich deinen Vater überreden, dich und den Diener rauszuwerfen, am Besten geht ihr beide dann zum Militär.“
Die beiden Männer sahen sich nur verständnislos