DEBORA. T.D. Amrein

DEBORA - T.D. Amrein


Скачать книгу
„Offenbar ist eine Handgranate in dem Kellerraum explodiert, worin sie sich aufgehalten haben. Das ist eigentlich schon alles, was sicher ist. Ein Unfall oder ein Blindgänger wäre natürlich möglich. Dagegen spricht jedoch, dass der Eingang des Kellers mit Erde verschüttet wurde. Durch die Explosion kann es nicht geschehen sein, der Abhang hinter dem Haus besteht ja aus festem Sandstein. Offenbar wollte jemand die Leichen verstecken. Das war jedoch in wenigen Stunden bestimmt nicht möglich. Eine solche Menge Erde musste schließlich erst herbeigeschafft werden. Eine etwas weniger aufwendige und auffällige Methode wäre immerhin vorstellbar.“

      „Interessiert Sie meine Version?“, wollte er wissen.

      „Ja natürlich, Hans, sehr sogar. Sie waren schließlich dabei, sozusagen …“

      Er lächelte kurz. „Dabei nicht, aber ich erinnere mich schon. Dass die Wallners plötzlich verschwunden waren, haben wir natürlich gemerkt, das war auch tagelang Thema im Gasthaus. Die Nachbarn haben herumgefragt und einige wilde Spekulationen sind aufgetaucht. Trotzdem war man sich bald einig: Die sind geflohen.“

      „Geflohen?“, wiederholte Michélle. „Weshalb denn? Wegen seiner Auszeichnungen? Fürchtete er deshalb die Rache der Alliierten? Es ist doch niemandem etwas passiert, bloß weil er in der Wehrmacht gedient hat.“

      „Das wäre schon ein Grund gewesen“, bestätigte Hans. „Dass es so kommen würde, wussten wir ja damals nicht. Man fürchtete die schreckliche Rache der Sieger. Wir haben damit gerechnet, den Rest unseres Lebens als Sklaven zu verbringen, falls man nicht gleich umgebracht wurde.

      Trotzdem, wir waren nicht deshalb dieser Auffassung. Ewald war lange an der Front gewesen. Er zweifelte lange nicht am Führer, aber im letzten Kriegsjahr änderte sich das. Er hielt sich für unantastbar und das war er auch lange Zeit. Deshalb wurde er immer deutlicher, was die Nazis anging. Anfangs waren es nur kleine Zeichen. Der Gruß war hier auf dem Land ohnehin nur selten zu sehen, wenn nicht gerade Parteipack oder Uniformierte dabei waren. Ewald grüßte jedoch gar keinen mehr mit erhobenem Arm, was schnell zu Problemen führte.

      Als hochdekorierter Frontkämpfer sollte er doch Vorbild sein, wurde er ermahnt. Ihn bloß deshalb abholen, konnten sie natürlich nicht.

      Das hat ihm nicht jedoch gereicht. Zuerst nahm er noch Rücksicht auf seine Familie, aber in den letzten Monaten beschimpfte er die Partei laut, auch in der Öffentlichkeit. Er soll den Führer ein elendes Schwein genannt haben. Stellen Sie sich das einmal vor, Frau Steinmann.

      Auch wenn es nur noch eine Frage der Zeit war bis zum Ende. Wir hatten viel gehört über die Rache der SS. Die walzten schon mal ein ganzes Dorf nieder, um einen Schädling, wie das damals hieß und auch diejenigen, die ihn nicht angeschwärzt hatten, zu bestrafen.

      Deshalb wurde er zuerst nur gebeten, es zu lassen. Weil das nichts half, drohten ihm schließlich die Gemeindeoberen, ihn einzusperren.

      Von der Partei im Ort war schon länger nichts mehr zu hören, die waren keine Gefahr mehr. Aber wenn das nach außen dringen sollte, drohte eine Katastrophe.

      Deshalb war niemand erstaunt, als Ewald mit seiner Familie plötzlich verschwunden war.

      Seine direkten Nachbarn waren schon zu Bekannten gezogen. Niemand wollte in der Nähe sein, wenn plötzlich Gestapo oder sogar eine Einsatzgruppe auftauchen sollte.

      Das war auch die Zeit, in der die wichtigsten Parteivertreter nach und nach unsichtbar wurden. Die hatten noch eine Chance auf eine Wohnung, an einem Ort, wo sie niemand kannte.

      Der eine oder andere dieser Herrenmenschen hatte allen Grund, die Rache der Zwangsarbeiter oder zum Beispiel, sich auch vor Ewald zu fürchten. Ist also gar nicht so abwegig, dass er vor seiner Flucht noch eine Nazifamilie ausgelöscht hat. Von diesem Keller hat kaum jemand gewusst. Zuerst hat er ihn vermutlich als Versteck für alle Fälle angelegt. Dass es fast fünfzig Jahre gedauert hat, bis er entdeckt wurde, zeigt doch, wie gut er das geplant hatte.“

      Michélle sah ihn fragend an.

      „Fast alle hatten irgendein vorbereitetes Versteck in dieser Zeit. Darüber wurde auch nicht geredet, damit keiner etwas ausplaudern konnte“, erklärte er.

      „Schließlich würde eine solche Tat auch erklären, weshalb er nie mehr zurückgekehrt ist. Es gab später Gerüchte, dass er in Australien gesichtet wurde“, fügte Hans nach einer kurzen Pause an.

      Michélle hatte gebannt zugehört. „Wenn ich Sie so erzählen höre, dann gab es doch nicht nur noch Frauen und Kinder im Ort. Waren denn die Männer nicht alle an der Front?“, fragte sie nach.

      Hans lächelte. „Natürlich waren nie alle an der Front, jemand musste doch die Industrie am Laufen halten. Als Facharbeiter oder Eisenbahner bekam man schnell den UK-Stempel. Mit guten Beziehungen manchmal auch einfach so.“

      Auf ihren fragenden Blick ergänzte er: „UK bedeutete unabkömmlich“.

      „Ich habe in der Schule gelernt, dass die Frauen in den Fabriken, die Männer ersetzt haben“, warf Michélle ein.

      Hans lächelte erneut. „Ja natürlich haben viele Frauen in den Fabriken gearbeitet. Aber nicht nur sie allein, das ist ein Mythos. Ohne Facharbeiter kann man keine komplizierte Produktion aufrechterhalten. Außerdem konnte man die Frauen doch nicht mit Hunderten von Zwangsarbeitern alleinlassen. Stellen Sie sich das doch einmal einfach vor.“

      Michélle nickte. „Das leuchtet mir ein.“

      Hans leerte sein Glas. „Sie trinken ja gar nicht, Frau Steinmann. Schmeckt es Ihnen nicht?“

      „Doch doch“, wehrte sie ab. „Aber es war so spannend, dass ich es ganz vergessen habe.“ Michélle schaltete das Band ab.

      „Ich glaube, das reicht für den Moment, vielen Dank“, sagte sie. „Darf ich wiederkommen, wenn ich neue Fragen habe?“

      „Wäre mir ein großes Vergnügen“, antwortete er. „Sie sind jederzeit willkommen, Frau Steinmann.“

      Michélle beschloss, mit weiteren Befragungen zu warten, bis die Ergebnisse aller Laboranalysen vorlagen. Nach Verwandten zu suchen, solange nicht klar war, ob es sich überhaupt um die Wallners handeln konnte, ließ sich kaum rechtfertigen. Natürlich musste sie das noch mit Krüger absprechen. Einige Tage würde sie benötigen, um das Gehörte genauer einzuordnen und um einige Details zu verifizieren. Dazu würde sich die Aufnahme vom Gespräch mit Hans als unverzichtbare Grundlage erweisen.

      ***

      Carmela hatte lange nachgedacht. Sie wollte weg. Weg von Debora. Weg bedeutete, ganz zu verschwinden. Viele kleine Zeichen, die an sich belanglos schienen, hatten sich zu einer Gewissheit verdichtet. Debora würde sie umbringen, wenn sie sich von ihr trennen wollte. Als Medizinerin kannte sie bestimmt eine Methode, die nicht nachzuweisen war.

      Carmela hatte eigentlich nicht nur ein Problem, wie ihr mittlerweile schmerzlich bewusst geworden war, sondern mindestens zwei. Seit sie mit Debora zusammen lebte, hatte sie auch keine eigene Wohnung mehr. Also wo sollte sie hin?

      Irgendwohin, wo sie niemand kannte und wo sie auch Debora nicht wiederfinden konnte. Dazu brauchte sie auch noch etwas Geld, das ihr genauso fehlte.

      Inzwischen war ihr jedoch eine Lösung eingefallen. Sich für den Rest des Lebens zu verstecken, kam nicht in Frage. Debora würde sie vermutlich auf der Nordhalbkugel des Globus überall finden können. Im tiefen Süden hätte sie vielleicht eine Chance. Aber so weit weg wollte Carmela dann doch nicht. Außerdem sprach sie außer Deutsch nur ein paar Worte Französisch, das war’s schon.

      Wie sollte sie damit in Australien oder Südamerika Fuß fassen?

      Debora würde nur in einem Fall nicht nach ihr suchen: wenn sie davon überzeugt war, dass ihre Freundin nicht mehr lebte.

      Carmelas Plan schien von Anfang an perfekt. Sie würde eine Entführung vortäuschen. Sie kannte in etwa die Verhältnisse von Debora, die nicht allzu viel Bargeld, aber einige Immobilien geerbt hatte. Innerhalb einer Woche sollte die Frau Doktor eine halbe Million lockermachen können, wenn ihre Liebe so weit reichte,


Скачать книгу