Der Mann, der Donnerstag war. Gilbert Keith Chesterton

Der Mann, der Donnerstag war - Gilbert Keith Chesterton


Скачать книгу
Tisch fallen – und Syme sodann gehen – und alles eben darauf ankommen zu lassen ...

      Er schob sich durch die Menge der Anarchisten, die im Begriff waren, sich in die Bänke zu verteilen, und sagte:

      »Ich denke, es ist Zeit zum Anfangen. Der Schleppdampfer auf dem Fluß – der wartet bereits. Ich schlage vor, daß Kamerad Buttons den Präsidentenstuhl einnimmt.«

      Und nachdem dies durch Händeaufheben genehmigt war, schlüpfte das Männchen mit den Papieren in den Präsidentenstuhl.

      »Kameraden«, knatterte es aus ihm so wie Pistolenschüsse, »unsere Versammlung von heute nacht ist wichtig, wenn sie auch nicht lang zu sein braucht. Dieser unserer Filiale ward von jeher die hohe Ehre zuteil, die ... Donnerstage für den Zentraleuropäischen Rat zu wählen. Und wir haben manche und hervorragende Donnerstage gewählt. Wir beklagen alle den beklagenswerten Hintritt des heldenmütigen Wirkers und Walters am Werk, der dieses Amt bis vorige Woche ausübte. Wie wir wissen, waren seine Dienste für die gute Sache hochansehnliche. Er organisierte den großartigen Dynamitanschlag zu Brighton, der unter gesegneteren Umständen jedermann auf der Mole hätte ausrotten müssen mit Stumpf und Stiel. Wie wir gleichfalls wissen, war sein Sterben so selbstverleugnend wie sein ganzes Leben, denn er starb durch seinen Glauben an eine hygienische Mischung von Kalk und. Wasser als ein Substitut von – als ein Ersatz für Milch, welches Getränk er für ebenso barbarisch hielt als wie die unerhörte, daraus folgernde oder rückzuschließende Barbarei und Grausamkeit an jenem armen Tier – der Kuh. Grausamkeit, auch nur ein Schatten von Grausamkeit empörte ihn allemal. Aber ... wir sind hier nicht versammelt, seine Tugenden zu preisen, sondern wir haben hier ein schweres Geschäft. Mags an und für sich schon schwer sein, all seinen hohen Qualitäten rühmend gerecht zu werden, um wieviel schwerer ist es, solchen Ruhm zu ersetzen. Ihnen, Kameraden, liegt es heute abend ob, aus unsern Reihen den zu erkennen und zu erwählen, der der Donnerstag sein soll. Wer immer von Ihnen, Kameraden, einen Namen vorschlägt – über denselbigen Namen laß ich abstimmen. Und falls kein Kamerad einen Namen vorschlägt, so muß ich annehmen, daß jener Dynamitheros, der von uns gegangen ist, mit sich nahm in die unergründliche Versenkung: das letzte, das größte Geheimnis seiner Tugend und seines reinen Kinderherzens ...«

      Da erhob sich einer jener fast unhörbaren Beifallsstürme, wie du sie zuweilen in Kirchen hören kannst. Und dann, dann stand ein großer alter Mann mit einem langen altehrwürdigen weißen Bart (vielleicht der einzige wirkliche Arbeiter von allen) vierschrötig auf und sagte:

      »Ich beantrage, Kameraden Gregory zum Donnerstag zu wählen« – und setzte sich vierschrötig wieder nieder.

      »Unterstützt wer diesen Antrag?« fragte das Präsidium.

      Ein kleiner Mensch in einem samtenen Rock, ein spitzbärtiger, unterstützte den Antrag.

      »Ehe wir zur Abstimmung schreiten«, sagte das Präsidium, »fordere ich unseren Kameraden Gregory auf, eine Kandidatenbeichte quasi abzulegen.«

      Gregory erhob sich. Unter donnerndem Applaus. Sein Gesicht von einer Leichenblässe. So daß sein seltsam rotes Haar durch den Kontrast scharlachfarben erschimmerte. Aber lächeln tat er. Ganz und gar ungeniert. Und war entschlossen und sah seinen ganzen Weg klar vor sich liegen. Seine beste Chance war: eine einschmeichelnde, eine doppelsinnige Rede vom Stapel zu lassen, daß dem Detektiv dabei werden mußte, als ob die Anarchistenbrüderschaft letzten Endes eine Dampferlustfahrt oder ein Knabenvergnügen wäre. Dabei verließ er sich sehr auf seine literarischen Fähigkeiten, auf sein Talent, fein zu nuancieren und durch Pointen zu wirken. Er glaubte, mit einiger Vorsicht – trotz all der Leute um ihn, reüssieren zu können, indem er die Institution in glatten, spitzfindigen, gleißnerischen, delikaten – bis nah an die Grenze der Entstellung und Verfälschung delikaten Worten schilderte und Tönen sang. Hatte Syme nicht einstmals gemeint: Anarchisten seien, bei all ihrer Prahlerei und Herausforderung, im Grunde doch nur Narren und Hanswürste? Nun also. So ging's bei Gregory in diesem kitzligen Augenblick um nichts anderes, um nicht viel mehr, als wie Syme jenes Alte – neu glauben zu machen!

      »Kameraden!« hub Gregory an, »ich hab wohl nicht nötig, Ihnen lange von meiner Politik zu erzählen: ist doch meine Politik auch die Ihrige! Unser Glaubensbekenntnis ist geschmäht, verlästert und verleumdet worden, es ist verunstaltet, verhäßlicht und entstellt worden, es ist über die Maßen verwirrt und verheimlicht worden – und dennoch ward es im geringsten nicht anderen Sinnes und blieb noch im kleinsten treu – sich selber. Die, die über den Anarchismus und seine Gefahren reden, gehen zu irgendwem und irgendwohin um Information – nur nicht zu uns, nur nicht zu Quell und Ursprung. Sie saugen ihre Weisheit über Anarchisten aus Schund- und Schauerromanen; aus Kramladen-Wischblättern; sie fressen die Weisheit über Anarchisten mit den Löffeln aus »Wochen« und »Gartenlauben«, ja aus der »Sportzeitung«. Sie erfahren über Anarchisten nie von Anarchisten selber. Wir haben keine Gelegenheit, den Schimpf und Schmutz, den man von einem Ende Europas zum andern bergehoch über unsere Häupter türmt, – wir haben keine Gelegenheit, ihn von uns abzuwälzen. Der – der beständig davon hört, daß wir wie die Pest seien, der hat noch nie unsere Antwort darauf gehört. Ich weiß, daß er sie auch nicht hören wird, obgleich meine Leidenschaft wäre, diesen Lügentempel niederzureißen. Denn es ist tief, tief unter der Erde, daß die Verfolgten sich versammeln müssen, so wie die ersten Christen sich in den Katakomben versammelten. Aber wenn, durch einen unglaublichen Zufall, heute nacht ein Mann hier unter uns wäre, der all sein Leben lang uns unermeßbar mißverstanden hätte, würde ich ihn fragen: Als jene ersten Christen in jenen Katakombennächten tagten, was für einen moralischen Ruf genossen sie denn über ihnen in den Straßen? Was für Abscheulichkeiten erzählte von ihnen ein hochkultivierter Römer dem andern? Setzen Sie nur einmal den Fall (würde ich ihm sagen), setzen Sie nur einmal den Fall: wir seien nichts als die Wiederkehr jener heute noch mysteriösen Paradoxie der Weltgeschichte. Setzen Sie nur einmal den Fall: man hält uns für eben denselbigen Auswurf und Abschaum wie jene frühen Christen, weil wir in der Tat ebenso kinderrein sind wie jene frühen Christen. Ja, setzen Sie nur einmal den Fall: man hält uns für ebenso wild und reißend wie jene Christen, weil wir in der Tat und wahrhaftig ebenso sanftmütig sind – –«

      Der Beifall, der seine einleitenden Worte so rauschend begrüßte, und wohl gewillt war, ihm bis ans Ziel seiner Rede zu folgen und sich auf dem Wege dahin noch immerfort zu vermehren, – der Beifall flaute fast von Silbe zu Silbe ab und blieb zurück und verlief sich und war bei seinem letzten Worte all verstummt. Und aus der Stille, die so jäh eintrat, erstand die laute quiekende Stimme des kleinen Mannes in der samtenen Jacke.

      »Ich bin nicht sanftmütig!«

      »Kamerad Witherspoon behauptet«, fuhr Gregory fort, »er sei nicht sanftmütig. Ah, wie so wenig er sich doch selber kennt! Seine Worte sind in der Tat – übertrieben. Seine äußere Erscheinung ist grimmig und sogar, nach alltäglichem Geschmacke, reizlos. Aber nur ein Freundesauge, so tiefblickend und zartfühlend wie das meinige, vermag die Tiefe und die lautere Sanftmut zu ergründen, die auf dem Grunde seiner Seele wohnt, so abgründig tief, daß er selbst nicht hinabzudringen vermag. Ich wiederhole es, ich wiederhole – wir sind die wahren frühen Christen und wir kommen nicht zu spät. Wir sind einfältig, wie sie einfältig waren – sehen Sie sich Kamerad Witherspoon an. Wir sind bescheiden, wie sie bescheiden waren – sehen Sie mich an. Wir sind barmherzig – –«

      »Nein, nein!« schrie Mr. Witherspoon mit der samtenen Jacke.

      »Ich sage, wir sind barmherzig«, wiederholte Gregory wütend, »wie die frühen Christen barmherzig waren. Sie verteidigten sich nicht einmal, als man sie anklagte, daß sie Menschenfleisch äßen. Wir essen kein Menschenfleisch – –«

      »Pfui, pfui!« schrie Witherspoon. »Warum nicht?« »Kamerad Witherspoon«, sprach Gregory mit fiebernder Lustigkeit, »möchte gar zu gerne wissen, warum ihn noch niemand aß (Heiterkeit). In unserem Verein auf jeden Fall, darin ihn jeder aufrichtig liebt, und der auf Liebe aufgebaut ist – –«

      »Nein, nein!« meinte Witherspoon, »nieder mit der Liebe!«

      »– – und der auf Liebe aufgebaut ist«, wiederholte Gregory und knirschte mit den Zähnen, »hats keine Not mit den Zielen, die wir als Körperschaft verfolgen


Скачать книгу