Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch

Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch


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ausbezahlt, drei oder fünf Mark waren es wohl. Dessen nicht genug; da die braven Leute den einen Koffer nicht hatten öffnen können, obwohl sie im Besitz des Schlüssels waren, so hatten sie mit meinem Gelds den Schlosser, und zwar sehr reichlich, für das Öffnen des Schlosses bezahlt. – Ich hieß die Rechnung ohne weiteres gut, weil ich nicht um Lappalien streiten wollte, aber amüsiert hat mich die Geschichte noch oft. Man ließ mich zahlen für meine Verhaftung, für „Ruhestörung“, die doch wahrhaftig nicht ich verursacht hatte, und für das Erbrechen meines Koffers, was doch wirklich nicht in meinem Interesse geschah! Das ist ungefähr so, als wenn man einem Delinquenten den Strick oder das Beil und die Mühewaltung des Henkers in Rechnung stellen wollte. Einem Einheimischen gegenüber hätte man sich jedenfalls derartiges nicht erlaubt, aber mit dem Ausländer machte man nicht viel Federlesens, – damals wenigstens.

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      Der Herr Staatsanwalt

       Der Herr Staatsanwalt

      Kurz nach meiner Verhaftung wurde ich zu einem Photographen geführt, der eine Aufnahme machte. Mir war nicht ganz geheuer dabei, denn ich musste befürchten, dass mein Bild nach Russland geschickt werde, wo man mich erkennen könnte; aber ich konnte natürlich nichts dagegen tun, weil ich nicht zeigen durfte, dass ich nach dieser Richtung etwas zu befürchten habe. Außerdem war ja die Photographie auch notwendig für die Recherchen in der Schweiz; es kam darauf an, dass man dort auf Grund derselben mich als Buligin anerkannte.

      In der Tat wurde denn auch von den schweizerischen Behörden bestätigt, dass diese Photographie Buligin darstelle, auf dessen Pass ich reiste. Dieser Teil der Untersuchung war also erledigt. Auch die Beweise, die ich beibrachte, dass ich an den „Missetaten“ des Jablonski und des Schweizers nicht beteiligt war und keine verbotenen Bücher in Deutschland verbreitet hatte, wurden anerkannt. Die russischen Bücher und Schriften, die in meinem Besitz waren, waren eben sozialdemokratischen Charakters und in Deutschland nicht verboten.

      Immerhin vergingen Wochen, bis alle Formalitäten erledigt waren. Nach ungefähr anderthalb Monaten nach meiner Verhaftung erklärte mir endlich der Untersuchungsrichter, dass er in den nächsten Tagen die Sache abschließen werde, und zwar werde er berichten, dass keine Anhaltspunkte für eine Strafverfolgung gegen mich vorliegen. Die Entscheidung liege dann beim Staatsanwalt, dieser könne entweder zustimmen und mich unverzüglich in Freiheit setzen, oder aber er könne trotzdem die Sache an das Gericht übergeben. Im letzteren Falle aber würden die Richter zweifellos dem Antrage des Untersuchungsrichters zustimmen, und selbst wenn man wider alles Erwarten den Prozess eröffnen sollte, so könne nicht daran gezweifelt werden, dass entweder meine Freilassung erfolgen müsse oder im schlimmsten Falle eine Strafe festgesetzt werde, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt betrachtet werden würde. Auf diese Weise wäre meine Freilassung nur die Frage einiger Tage, und ich könnte ganz sicher sein, dass die Sache glatt ablaufe.

       Ich glaubte ihm gern und wies den Gedanken von mir, dass hinter den Worten des Untersuchungsrichters noch etwas anderes verborgen sein könnte. Zwar kamen bald einige Umstände hinzu, die Argwohn erregen mussten, aber es ist ja so menschlich, das für wahr zu nehmen, was man heiß begehrt; wenn Hoffnung winkt, da findet sich stets ein Mittel, alles in rosigem Lichte zu sehen. So ging es mir damals auch.

      Einige Tage nach dieser Erklärung des Untersuchungsrichters wurde ich in das Besuchszimmer gerufen. Hier fand ich die Frau meines Freundes Nadjeschda Axelrod und einen greisen Herrn, den Staatsanwalt. In strengem, drohendem Tone erklärte er uns beiden, er gestatte nur unter der Bedingung eine Unterredung, dass wir deutsch sprechen; bei dem ersten russischen Worte würde er uns trennen. Dieser Ton und das ganze Verhalten des grimmigen Greises stimmte durchaus nicht mit der Perspektive einer baldigen Befreiung, wie sie mir der Untersuchungsrichter eröffnet hatte. – „Welche Gründe hat dieser Herr für sein Verbot, russisch zu sprechen“, fuhr es mir durch den Sinn, „wenn ich ohnehin bald befreit werden soll?“ Er war bereits im Besitz der Akten, und er kannte das Ergebnis, zu dem der Untersuchungsrichter gekommen war. Aber ich hatte in jenem Moment kaum die Möglichkeit, den Gedanken nachzugehen, und zog den Schluss, er sei einfach ein eingefleischter Formalist. „Das Gesetz schreibt vor, dass die Unterhaltung eines in Untersuchung befindlichen Gefangenen zu überwachen ist“, dachte ich mir, „und so zwingt er mich und Frau Axelrod, deutsch zu sprechen, damit er uns verstehen kann; es liegt also nichts Verdächtiges vor, was auf die Vereitelung meiner Hoffnung hindeuten könnte.“

      Das strenge Auftreten des grimmigen Staatsanwalts – v. Berg war sein Name – hatte jedenfalls einen niederschlagenden Eindruck auf mich und Frau Axelrod gemacht, und wir wussten kaum, was wir einander sagen sollten. Infolgedessen wechselten wir einige inhaltslose Phrasen und nahmen sehr bald Abschied.

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      Zellenwechsel

       Zellenwechsel

      Die nächsten Tage sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Gleich am folgenden Tage kam der Verwalter Roth in meine Zelle und erklärte mir in liebenswürdigster Weise, mit der Miene eines vollendeten Biedermannes ohne Arg und List, dass ich in eine Zelle im Erdgeschoss übersiedeln müsse, weil das obere Stockwerk, wo ich bisher untergebracht war, renoviert würde. Er tat dabei, als entschuldige er sich vor mir ob der Störung und bedauere, dass die andere Zelle nicht so bequem sei.

       Diese Änderung kam mir jedenfalls sehr ungelegen, denn vor allem basierte der Fluchtplan gerade auf der Lage der Zelle, in der ich mich befand. Einer meiner Freunde hatte ein Zimmer im Hause gegenüber dem Gefängnis gemietet, und da das Fenster meiner Zelle nach der Straße lag, so verständigten wir uns in außerordentlichen Fällen durch verabredete Zeichen. Die Lage im ersten Stockwerk bildete kein Hindernis für die Flucht. – Neben diesen sozusagen geschäftlichen Erwägungen wurde mir der Abschied aus der bisherigen Zelle aus anderen Gründen schwer. Es waren mit diesen vier Wänden bereits mancherlei Erinnerungen und nicht nur finstere und traurige, sondern auch freundlicher Art verbunden. Besonders unangenehm war mir der Gedanke, dass das Fenster im Erdgeschoss jedenfalls nicht nach der Straße liegen würde, und das Beobachten der Straße war meine liebste Zerstreuung. An den Markttagen spielten sich dort allerhand interessante Szenen zwischen den Käufern und Verkäufern, Bauersleuten aus der Umgebung, ab; an anderen Tagen fanden auf dem Platze militärische Übungen statt, und dieses mir fremde Getriebe interessierte mich. Besonders liebte ich es aber in der Dämmerstunde, auf das Fenster zu klettern und die Kinder zu beobachten, die zu dieser Stunde sich auf dem Platze herumtummelten und alle möglichen Spiele anstellten. Ihrem fröhlichen Gelächter und Geschrei lauschend, versetzte ich mich im Geiste nach der Heimat, nach dem Süden Russlands und gedachte der eigenen Kindheit...

       Das alles sollte mit der Übersiedelung in die neue Zelle fortfallen. Diese erschien weniger geräumig, finster, und die Fenster führten nach dem Hofe. Dieser letzte Umstand machte die Flucht nahezu unmöglich. Zwar blieben mir noch zwei, drei andere Fluchtpläne, doch zeigte sich später, dass keiner von ihnen wirklich ausführbar war. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass schließlich ein solcher Versuch überhaupt nicht nötig sein würde, weil man mich doch auf legalem Wege freilassen werde. Ich berechnete schon, wie viel Tage mich noch von diesem Augenblick trennen. Die Überführung in die andere Zelle erschien mir als nebensächlicher Zufall, der sich aus der Erzählung des Verwalters ganz harmlos erklärte. Meine Freunde fassten die Sache allerdings anders auf. Als sie mich einige Tage nicht am Fenster sahen, glaubten sie, man habe mich bereits insgeheim nach Russland geschafft.

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      IV. Der Besuch „meiner Gattin“

       IV. Der Besuch „meiner Gattin“

      An einem der nächsten Tage wurde ich abermals in das Besuchszimmer gerufen. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, als sich eine junge Dame unter Lachen und Weinen mir in die Arme warf – die Frau meines Freundes Buligin! Da ich angeblich als ihr Gatte verhaftet worden war, war sie herbeigeeilt, um hier die Rolle meiner Frau zu spielen. Und sie spielte sie so gut, dass selbst der strenge


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