Im heiligen Lande. Selma Lagerlöf
künftiger Herrlichkeit wahrsagte. Denn gerade damals kam die weise Königin von Saba, um Salomon zu besuchen. Der König empfing sie in seinem Palast, der deswegen der Libanonpalast genannt wurde, well er aus den Zedern des fernen Libanon erbaut war.
Als Salomon der arabischen Königin dieses mächtige Gebäude zeigte, desgleichen sie noch nie gesehen hatte, fesselte einer der Balken in der Wand ihre Aufmerksamkeit. Er war ungewöhnlich dick, und wenn man ihn genau betrachtete, konnte man sehen, daß er aus drei zusammengewachsenen Stämmen bestand.
Das Herz der weisen Königin ergriff ein Beben, als sie sah, daß dieser Baum in den Palast des Königs gebracht war, und sie beeilte sich, ihm seine Geschichte zu erzählen. Sie erzählte ihm, daß der Engel, der das Paradies nach der Austreibung der ersten Menschen bewachte, einstmals Adams Sohn Set erlaubt hatte, in den lieblichen Garten hineinzukommen. Er durfte so weit gehen, bis er den Baum des Lebens erblickte. Als Set wieder hinausgehen wollte, schenkte ihm der Engel zum Abschied drei Samenkörner von diesem wunderlichen Baum. Diese Samenkörner legte Set auf Adams Grab auf dem Berge Libanon in die Erde, und daraus wuchsen drei Stämme hervor und bildeten einen einzigen Baum.
Es ist dieser Baum, sagte die Königin, den die Holzhauer König Herams für dich, o König, gefällt haben, und der in dein Schloß hineingebaut ist. Aber es ist prophezeit, daß an diesem Baum einstmals ein Mensch sterben soll, und wenn das geschehen ist, dann wird Jerusalem fallen, und alle Stämme Israels werden zerstreut werden. Damit eine so böse Prophezeiung nicht in Erfüllung gehen möge, riet sie dem Könige, den Baum zu zerstören, und Salomon ließ ihn aus der Wand seines Palastes herausnehmen und befahl, daß er in den Teich Bethesda geworfen werde.«
Nach dieser langen Rede wurde es still. Mrs. Gordon glaubte fast, daß sie nichts mehr hören würde.
Endlich begann die Stimme der Glocke von neuem: »Ich denke zurück an strenge Zeiten. Ich entsinne mich, wie der Tempel zerstört und das ganze Volk in Gefangenschaft geführt wurde. Wo war da deine Ehre und dein Glanz, o Fels?« Erst eine Zeit darauf ertönte die Antwort des Felsens: »Bin ich denn allmächtig? – Aber selbst wenn ich fiel, habe ich mich immer wieder von neuem erhoben. Entsinnst du dich nicht des Glanzes, der mich zu Herodes' Zeit umstrahlte? Entsinnst du dich der drei Vorhöfe, die den Tempel umgaben. Entsinnst du dich des Feuers auf dem Brandopferaltar, das während der Nacht mit einer so hohen Flamme brannte, daß sie die Stadt erleuchtete? Entsinnst du dich der Tempeltür des Herodes, die die Schöne genannt wurde, wo er mehr als hundert Porphyrsäulen errichtete? Entsinnst du dich des Weihrauchduftes vom Tempel, der bei westlichem Winde bis nach Jericho hinab gespürt werden konnte? Entsinnst du dich des Getöses, wenn die kupfernen Tore aufgetan wurden? Entsinnst du dich, wie die Babylonier Vorhänge vor dem Allerheiligsten aufhängten, die mit Rosen aus purem Golde durchwebt waren?«
Kurz und barsch klang es von der Kirche herunter: »Alles dessen entsinne ich mich. Aber ich entsinne mich auch, daß zu jener Zeit Herodes den Teich Bethesda reinigen ließ. Ich entsinne mich, daß seine Arbeiter auf dem Grunde den Baum des Lebens fanden, der in der Wand von Salomons Schloß gesessen hatte, und daß sie den dicken Balken an das Ufer des Teiches warfen.«
»Entsinnst du dich,« fuhr die Stimme des Felsens in stolzem Jubel fort, »entsinnst du dich der glänzenden Stadt, wo die Fürsten und Völker Judas auf Zion wohnten, und wo Römer und Fremde in der Nähe von Bezetha wohnten? Entsinnst du dich der Burg Mariamne und der Burg Antonia? Entsinnst du dich der starken Tür, entsinnst du dich der turmgeschmückten Ringmauer?«
»Ich entsinne mich alles dessen«, ertönte es von der Kirche her, »aber ich entsinne mich auch, daß gerade zu jener Zeit der Ratsherr Joseph von Arimathia ein Felsengrab in seinem Garten aushauen ließ, der ganz nahe bei Golgatha lag.«
Die Stimme von der Moschee her zitterte ein wenig, aber sie fuhr unverzüglich fort:
»Entsinnst du dich der mächtigen Völkerwanderung nach Jerusalem zu den großen Festen? Entsinnst du dich, wie alle Wege Palästinas von Menschen wimmelten und die Abhänge vor der Stadt dicht mit Zelten bedeckt waren? Entsinnst du dich der Männer aus Rom, aus Athen, aus Damaskus, aus Alexandrien, die herbeiströmten, um die Herrlichkeit des Tempels und der Stadt zu sehen? Entsinnst du dich dieses stolzen Jerusalems?«
Der Glockenklang antwortete mit unerschütterlichem Ernst: »Freilich entsinne ich mich alles dessen. Aber ich habe auch nicht vergessen, daß zu dieser Zeit die Henkersknechte des Pilatus den Baum des Lebens am Ufer des Teiches Bethesda fanden und ein Kreuz daraus zimmerten, auf dem ein zum Tode verurteilter Verbrecher hingerichtet werden sollte.«
»Verachtet und übersehen bist du immer gewesen«, tönte es bitter von der Moschee her. »Aber bis dahin warst du doch nichts weiter als ein unbemerkter Fleck auf Erden. Zu dieser Zeit aber widerfuhr dir die Schmach, daß die Henkersknechte dich als Richtstätte benutzten. Ich entsinne mich dieses Tages, wo sie drei Kreuze auf dem Berge Golgatha errichteten.«
»Wahrlich verdiente ich, verworfen zu werden, könnte ich jemals des Tages vergessen«, erwiderte die Kirche in feierlichem Ton, der in die Luft hinausströmte, als sei er von lobsingenden Chören begleitet. »Und ich entsinne mich auch, daß gleichzeitig, als der Baum des Kreuzes auf Golgathas Felsen gepflanzt wurde, das große Osteropfer auf dem Berge Moria stattfand. Die Auserwählten traten, festlich gekleidet, in die säulengeschmückten Vorhöfe. Zwischen sich trugen sie lange Stangen, an denen die Opferlämmer hingen. Als die Vorhöfe so voll von Menschen waren, daß sie nicht mehr umfassen konnten, wurde die Tempelpforte geschlossen, und Trompetenstöße gaben das Zeichen, die Feier zu beginnen.
Da wurden die Tiere an Haken zwischen den Säulen aufgehängt und geschlachtet. Die Priester standen in einer langen Reihe quer über den Hof aufgestellt und reichten das Blut der Opfertiere in Schalen von Silber und Gold nach dem Brandaltar hinauf. Und so viel Blut wurde da vergossen, daß es den ganzen Hof überschwemmte. Die Priester mußten auf Schemeln stehen, damit nicht die Säume ihrer langen weißen Gewänder mit Blut getränkt wurden. Aber im selben Augenblick, als der Gekreuzigte auf Golgatha starb, wurde das große Opferfest im Tempel unterbrochen. Eine mächtige Finsternis senkte sich über das Heiligtum herab, das ganze Haus erzitterte unter dem Erdbeben, und der babylonische Vorhang zerriß von oben bis unten, als Zeichen, daß von dieser Stunde an die Macht und die Ehre und die Herrlichkeit von Moria auf Golgatha übergehen sollte.«
»Dieses Erdbeben erschütterte auch Golgatha«, fiel die alte Stimme ein. »Der ganze Berg zerbarst.«
»Ja, wahrlich«, erwiderte die Kirche in demselben tiefen, lobsingenden Tonfall. »Im Golgathaberge entstand eine tiefe Spalte, und, durch die hindurch floß das Blut des Kreuzes hinab bis an das Felsengrab in seinem Innern und verkündete dem ersten Sünder und dem ersten Höchstenpriester, daß die Versöhnung vollbracht sei.«
In diesem Augenblick ertönte ein starkes und anhaltendes Läuten von der Kirche her, und gleichzeitig stiegen von dem Minarett der Moschee die langgezogenen, klagenden Laute, die die Gläubigen zum Gebet rufen. Mrs. Gordon konnte hören, daß eine der heiligen Stunden der Nacht angebrochen war, aber dies traf so unmittelbar nach der Rede über die Kreuzigung ein, daß es auf sie wirkte, als hätten die beiden Alten die Gelegenheit ergriffen, um ihrem Stolz und ihrer Demütigung Luft zu machen.
Kaum war das starke Getöse verklungen, als die Moschee in einem feierlichen Ton begann: »Ich bin der große Fels, der ewig bestehende, was aber ist Golgatha? Ich bin der, der ich bin; niemand kann daran zweifeln, wo er mich zu suchen hat. Wo aber ist Golgatha? Wo ist der Berg, auf dem das Kreuz in den Felsgrund herabgesenkt wurde? Niemand weiß es. Wo ist das Grab, in das Christus gelegt wurde? Niemand kann mit Sicherheit die Stelle angeben.«
Sogleich ertönte die Antwort von Golgatha her: »Kommst auch du mit diesen Beschuldigungen? Du solltest es doch besser wissen, du, der du so alt bist, daß du dich entsinnen kannst, wo Golgatha gelegen hat. Du hast seit Jahrtausenden den Berg auf seinem Platz vor dem Tor der Gerechtigkeit gesehen.«
»Ach ja, wahrlich bin ich alt«, wiederholte die Moschee. »Aber du sagst ja, daß die Alten ein schlechtes Gedächtnis haben. Es lagen viele kahle Hügel vor Jerusalem, und es sind unendlich viele Gräber in den Felsen ausgehauen. Wie kann ich wissen, welches das rechte ist?«
Mrs.