DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner

DAS BUCH ANDRAS II - Eberhard Weidner


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Situation eine große Hilfe gewesen wären. Auch ich fühlte mich hilflos und außerstande, ihr zu helfen, schließlich hatten wir es mit zwei bewaffneten und sicherlich zu allem entschlossenen Männern zu tun. Was konnte ich, allein und unbewaffnet, schon dagegen ausrichten, außer auf der Stelle davonzurennen und zu versuchen, so schnell wie möglich jemanden zu benachrichtigen.

      Die Zeit war seit dem Moment, als ich die gefährliche Lage im Schwesternzimmer erkannt hatte, in meiner subjektiven Wahrnehmung so zähflüssig und langsam verstrichen, als wäre sie in Bernstein gegossen worden. Nur dieser Umstand hatte es mir überhaupt erlaubt, all den in Sekundenbruchteilen in meinem Verstand aufblitzenden Gedankengängen nachzugehen. Nun hatte ich das irrationale Gefühl, aus einer anderen Zeitebene in den normalen Zeitablauf zurückzukehren, als ich plötzlich wieder die leisen Geräusche meiner nächtlichen Umgebung bewusst wahrnahm und in diesem Moment Gehrmanns gedämpfte Stimme hörte – wenn er denn tatsächlich so hieß.

      »Ich frag dich jetzt zum letzten Mal: Wie lautet ihre Zimmernummer?«

      Die kalte Stimme des Mannes weckte in mir unangenehme Erinnerungen an seinen hasserfüllten Blick, den ich nun, im Nachhinein, natürlich leichter zu deuten wusste.

      Die Schwester bewies erneut mehr Mut, als ich ihrer zierlichen, zerbrechlich wirkenden Erscheinung zugetraut hätte, denn sie schüttelte trotz ihrer immensen Angst so heftig den Kopf, dass ihre langen schwarzen Haare herumgewirbelt wurden. Dabei ließ sie jedoch die Pistolenmündung vor ihrem Gesicht keine einzige Sekunde aus den Augen, als hätte sie Angst, den Moment zu verpassen, in dem das Projektil den Lauf verließ – als würde sie die Kugel tatsächlich sehen können, bevor diese ihren Schädel und ihr Gehirn durchschlug und ihre tödliche Wirkung entfaltete.

      Die nur mühsam unterdrückte Wut war aus Gehrmanns nächsten Worten deutlich herauszuhören, auch wenn er sich noch immer beherrschen konnte und betont leise und deutlich sprach. Nur die Waffe in seiner Hand zitterte leicht und zeigte seine innere Erregtheit. »Ich verliere langsam die Geduld mit dir. Sag mir endlich, wo ich Sandra Dorn finde. Ich zähle bis drei, dann schieße ich ein Loch in deinen Kopf, so wahr mir Gott helfe. Ich tu es nicht gern, aber Ungehorsam gehört bestraft. Zwing mich also lieber nicht dazu. Aber ich werde es dennoch tun. Zur Not finden wir sie nämlich auch ohne deine Hilfe. … Eins!«

      Hätte ich je auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, wen die beiden Männer an diesem Ort außerhalb der gewöhnlichen Besuchszeiten und ohne einen schönen Blumenstrauß, sondern stattdessen mit tödlichen Waffen in den Händen besuchen wollten, dann hätten Gehrmanns Worte dem spätestens in diesem Moment ein jähes Ende bereitet.

      »Zwei!«

      Die Krankenschwester schluchzte leise. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie stumm ein Gebet sprechen.

      Auch ich konnte nur mühsam einen verräterischen Laut unterdrücken. Ich hob die Hand und presste sie gegen meinen Mund, um nicht laut schreien zu müssen, während ich fieberhaft überlegte, was ich tun konnte, um der tapferen jungen Frau zu helfen und das scheinbar Unabwendbare doch noch zu verhindern. Doch mein Gehirn, das ansonsten von allerlei nutzlosen Gedanken überquoll, war plötzlich wie leergefegt.

      Die Schwester musste die Bewegung meines hochgerissenen Armes aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn noch bevor Gehrmann in der Lage war, die letzte Ziffer auszusprechen und seine Drohung in die Tat umzusetzen, wandte sie den Blick von der todbringenden Mündung der Pistole ab und sah zu mir.

      Durch die dünne Glasscheibe, die uns trennte, blickten wir uns in die Augen. Es war ein merkwürdig intensiver und gleichzeitig intimer Augenblick, als jede von uns in den Augen der jeweils anderen zu versinken schien, während uns zugleich entsetzlich bewusst war, dass es der definitiv letzte Augenblick im Leben der jungen Krankenschwester sein konnte, bevor die von Gehrmann abgefeuerte Kugel ihr Ziel fand.

      Doch es war nur ein kurzer Moment, denn Gehrmann musste die veränderte Blickrichtung der Augen bemerkt und daraus geschlussfolgert haben, dass die Aufmerksamkeit der jungen Frau durch etwas hinter seinem Rücken von der todbringenden Waffe in seiner Hand abgelenkt worden sein musste. Vielleicht hatte ihm aber auch ein zusätzlicher Sinn, der den Menschen nur selten und auch nur dann, wenn man ihn am dringendsten brauchte, zugänglich ist, eingeflüstert, dass jemand hinter ihm im Gang vor dem Schwesterzimmer stand und Zeuge seines schändlichen Treibens wurde.

      Der Mann, der sich als Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann ausgegeben hatte, wandte in einer blitzschnellen Bewegung den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Ich musste meinen Blick erst mühsam von dem der Nachtschwester lösen, bevor ich ihn auf den wesentlich älteren Mann richten konnte. Wahrscheinlich konnte ich ihn wesentlich besser sehen als er mich, denn er stand im hellen Licht des Schwesternzimmers, während der Gang durch die Notbeleuchtung und das durch die Trennscheibe fallende Licht nur mäßig erhellt wurde. Dennoch erkannte er mich augenscheinlich sofort wieder. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, sogar noch mehr, als das bei der Schwester der Fall gewesen war, obwohl diese immerhin Todesängste ausgestanden hatte.

      Lauf!, brüllte die Stimme meines Selbsterhaltungstriebes in meinem Kopf in einer ungeahnten Lautstärke, die den Befehl durch sämtliche Korridore meines Verstandes hallen ließ. Noch bevor meine Reflexe einsetzen und die entsprechenden Befehle meines trägen Gehirns durch mein verzweigtes Nervensystem zu den jeweiligen Muskeln in den für eine erfolgreiche Flucht erforderlichen Körperteilen gelangen konnten, war ich gezwungen mitanzusehen, wie Gehrmanns Hand, in der er die Waffe hielt, vom Gesicht der Krankenschwester weg- und zu mir herumschwenkte. Doch ich hatte nicht vor, abzuwarten und tatenlos zu beobachten, wie die tödliche Waffe die bogenförmige Bewegung vollendete, bis die Mündung schließlich direkt auf mich gerichtet war.

      Schon allein die Panik, die mich bei dem Gedanken erfasste, erneut in den Lauf einer Schusswaffe zu blicken, sorgte dafür, dass mein Körper zusätzliche Mengen des Stresshormons Adrenalin ausschüttete. Es sorgte unter anderem dafür, dass blitzschnell zusätzliche Energiereserven mobilisiert wurden und sich die Herzleistung verbesserte. Dies ermöglichte es mir, mich gerade noch rechtzeitig zur Seite wegzuducken, bevor der Pistolenlauf seine Drehung beenden und die Waffe ihr tödliches Projektil in meine Richtung spucken konnte.

      Die Kugel traf zuerst die Trennscheibe, die sich daraufhin in einem klirrenden Regen aus glänzenden Scherben in den Gang ergoss. Dann sirrte sie, vom Zusammenprall mit dem Glas nur geringfügig abgelenkt, haarscharf an meiner Schulter vorbei, durchbohrte die Luft an der Stelle, an der sich Sekundenbruchteile zuvor mein Oberkörper befunden hatte, und schlug am Ende ihrer Flugbahn hinter mir in die Wand, wo sie zweifellos einen ansehnlichen Krater hinterließ. Allerdings hatte ich weder Zeit noch große Lust, mich davon zu überzeugen, denn ich rannte bereits geduckt los, bevor Gehrmann Gelegenheit fand, erneut auf mich anzulegen und dieses Mal unter Umständen besser zu zielen.

      Aufgrund des Umstands, dass ich auf dem Herweg sofort stehen geblieben war, sobald es mir möglich gewesen war, in das Schwesternzimmer hineinzusehen und die drei Personen zu erkennen, erforderte es nun nur wenige Schritte, den unmittelbaren Gefahrenbereich wieder zu verlassen.

      Das charakteristische Geräusch, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt hatte und sich in meinen Ohren wie das keuchende Husten eines Lungenkranken anhörte, ertönte erneut, als Gehrmann ein weiteres Mal schoss. Doch auch diese Kugel jagte hinter mir harmlos durch den Flur und teilte das Schicksal ihrer Vorgängerin, indem es sich in den Verputz der Wand bohrte.

      »Los, sofort hinterher!«, schrie Gehrmann, offensichtlich frustriert durch die beiden Fehlschüsse. Ich ging logischerweise davon aus, dass er den Befehl nicht der Nachtschwester erteilt hatte, die dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen sein dürfte, sondern seinem jüngeren Kumpan oder Untergebenen Klapp, der vermutlich trainierter und schneller als Gehrmann war.

      Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Wenn Klapp erst einmal aus dem Schwesternzimmer heraus und im Gang war, konnte er seelenruhig auf mich anlegen und mich abschießen wie auf dem Schießstand, denn der Gang war leer und bot mir keinerlei Deckung. Ich durfte also nicht länger einfach nur den Flur hinunterrennen, sondern musste schnellstmöglich ein geeignetes Versteck finden.

      Da mir nichts anderes übrig blieb, lief ich, ohne lange darüber nachzudenken,


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