DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner
wusste nicht, ob es schon immer Michaels Charakter entsprochen hatte, seine Gefühle so geschickt zu verstecken, oder ob dies eine Folge seiner Tätigkeit als Undercover-Ermittler des LKA war. Auf jeden Fall hätte er mit dieser Fähigkeit genauso gut Profi-Pokerspieler und rasch sehr reich werden können.
Als Michael endlich das Wort ergriff und meiner ungeduldigen Warterei damit ein Ende bereitete, machte er äußerlich weiterhin einen vollkommen gelassenen Eindruck: »Sie wissen schon, dass Sie mich gerade dazu anstiften wollen, eine ganze Reihe von Straftaten zu begehen, Sandra?«
Ich nickte nur und schluckte beklommen, denn dieser Ansatz klang nicht sehr vielversprechend.
»Und dann auch noch ausgerechnet ein Einbruch in eine Anwaltskanzlei«, fuhr Michael ebenso ruhig fort und schüttelte über die schiere Ungeheuerlichkeit meiner Bitte den Kopf. »Sie wissen natürlich schon noch, dass ich Polizeibeamter bin?« Es war natürlich nur eine rhetorische Frage, und so ersparte ich mir jede Antwort darauf. »Ich kann nicht einfach irgendwo einbrechen, wenn mir danach ist. Wahrscheinlich haben Sie zu viele schlechte Filme gesehen, in denen Polizisten ständig in fremde Häuser und Wohnungen einbrechen. Aber in der Realität gelten die Gesetze auch für uns. Sogar und gerade für Beamte, die verdeckt ermitteln. Noch dazu wären alle Beweise, die wir dort finden – falls es sie überhaupt gibt –, vor Gericht überhaupt nicht verwertbar, weil sie auf illegale Weise beschafft …«
»Es geht hier doch nicht um Beweise für ein Gerichtsverfahren«, unterbrach ich ihn wesentlich erregter und lauter, als ich geplant hatte. Ich warf einen raschen Blick auf die Servicekraft, die erneut hinter einer monströsen Kaffeemaschine hervorlugte. Als sie meinen Blick auf sich gerichtet sah, zog sie aber so schnell und gekonnt wie eine Schildkröte den Kopf wieder ein. Ein weiteres Mal bemühte ich mich, meine Stimme zu dämpfen, als ich einen letzten Versuch unternahm, doch noch zu retten, was scheinbar gar nicht mehr zu retten war. »Es geht nicht um irgendwelche Beweise«, wiederholte ich leise, »es geht hier um mich.« Beim letzten Wort legte ich beide Handflächen auf meine Brust, auch wenn es vermutlich etwas melodramatisch aussah, und sah meinen Gesprächspartner eindringlich und bittend zugleich an. »Verstehen Sie denn nicht, Michael? Wenn es in Dr. Schwarzers Büro irgendwelche Unterlagen über mich gibt, dann muss ich sie haben. Es zerreißt mich nämlich jedes Mal innerlich, wenn mir wieder einmal bewusst wird, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wer ich bin und woher ich komme. Die Dorns und Dr. Schwarzer mit seinem verfluchten Satanisten-Verein haben mir meine Vergangenheit gestohlen. Und ich will sie – verdammt noch mal – endlich wiederhaben, damit diese schreckliche Leere in mir wieder mit Erinnerungen an mein Leben gefüllt werden kann …«
Ich verstummte, weil mir die Stimme versagte. Tränen liefen mir warm und feucht über das Gesicht. Ich vergrub es in beiden Händen und schluchzte unterdrückt.
Als Nächstes spürte ich seine Hand, die in einer eher unbeholfenen als tröstenden Geste, aber dennoch sehr zärtlich über mein Haar strich.
»Nun hören Sie schon auf zu weinen, Sandra«, sagte Michael und zog die Hand so rasch wieder weg, als hätte er sich verbrannt. »Sie haben ja schon gewonnen!«
Ich nahm die Hände vom Gesicht, mit denen ich die Tränen, diese verräterischen Beweise meiner Schwäche und Verletzlichkeit, vor ihm hatte verbergen wollen, und sah ihn mit skeptischer Miene an. Ich konnte kaum glauben, dass ich seine Worte gerade richtig verstanden hatte, und wartete insgeheim auf eine Bestätigung.
Er reichte mir eine Papierserviette, damit ich mir die Tränen abwischen konnte. »Sie haben schon richtig gehört. Ich setze meinen unkündbaren Beamtenstatus und meine Pension aufs Spiel, um für eine verzweifelte junge Frau in die Kanzleiräume eines erfolgreichen und bekannten Rechtsanwalts einzubrechen. Es klingt sogar noch wesentlich verrückter, wenn man es laut ausspricht, als nur darüber nachzudenken. Aber was soll’s? Lassen Sie uns also lieber sofort aufbrechen, bevor ich wieder zu Verstand komme und es mir doch wieder anders überlege!«
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