DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner
allzu lang werden. Immerhin gab es das eine oder andere wichtige Thema, über das wir uns unterhalten konnten. Dass ich mich in Michaels Gegenwart ausgesprochen wohl und sicher aufgehoben fühlte, spielte bei meinen Überlegungen bestimmt auch eine Rolle, aber beileibe nicht die entscheidende.
Nachdem wir unser weiteres Vorgehen abgesprochen hatten, erzählte mir Michael, wie er die Stunden vor meinem Anruf verbracht hatte, während er den Wagen durch die nächtlichen Straßen Münchens zu unserem Ziel lenkte. Er hatte den Rest des gestrigen Tages bis spät in die Nacht damit zugebracht, für seine Vorgesetzten beim Landeskriminalamt einen möglichst detaillierten Bericht über seine letzten Undercover-Tätigkeiten, die Umstände und Gründe meiner Befreiung und die daran anschließende Flucht und Verfolgungsjagd durch den Wald verfassen müssen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter im Dezernat Operative Spezialeinheiten, Bereich Verdeckte Ermittlungen, hatte ihn wegen des Auffliegens seiner Tarnung zwar nicht unbedingt die Hölle heiß gemacht, aber so richtig glücklich war beim LKA auch niemand darüber gewesen. Vor allem die Tatsache, dass die Satanisten im Anschluss untergetaucht und seitdem spurlos verschwunden waren, ließ die Ermittler nicht gerade gut aussehen und beunruhigte sie auch ein wenig. Dennoch war Michael glimpflich und vor allem ohne disziplinarische Strafmaßnahmen davongekommen. Allerdings war er, bis er den umfassenden Bericht schließlich fertiggestellt hatte, erst spät ins Bett gekommen und nur kurze Zeit später von mir wieder aufgeweckt worden. Insofern war es verständlich, dass er aufgrund des Schlafdefizits noch immer müde war und dementsprechend erschöpft und verdrossen aus der Wäsche guckte. Allerdings war es mir auch nicht viel besser ergangen, und ich hatte darüber hinaus wieder einmal um mein Leben rennen müssen, sodass sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen hielt.
»Haben Sie keinen Hunger?«
Die Worte rissen mich aus meinen Überlegungen. Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht meines Gegenübers und sah, dass Michael seine eigenen Gedankengänge abgeschlossen hatte und mich mit fragendem Gesichtsausdruck ansah. Auf der Fahrt hierher hatte ich noch einen äußerst heftigen Anfall von Heißhunger verspürt und das Gefühl gehabt, ich könnte mehrere Gänge eines Menüs gleichzeitig verputzen. Allerdings war diese Anwandlung ebenso rasch wieder verschwunden. Insgeheim führte ich das kurzzeitige und überwältigende Hungergefühl darauf zurück, dass ich erneut nur knapp einer gefährlichen Situation entgangen und gerade noch mit dem Leben davongekommen war. Als Folge überreagierten die Systeme meines Körpers nun wohl ein bisschen und lieferten fehlerhafte Informationen an die Schaltzentrale in meinem Gehirn.
»Der Cappuccino genügt mir vollkommen!«, gab ich Michael zur Antwort, weil ich auch jetzt keinen Hunger verspürte. Ich leerte die Tasse, bevor der Inhalt noch mehr abkühlte. Danach löffelte ich den Schaum heraus und aß ihn. Während ich damit beschäftigt war, hatte ich plötzlich einen anderen Einfall. Der mit aufgeschäumter Milch gefüllte Kaffeelöffel erstarrte auf dem Weg von der Tasse zu meinem Mund, während ich meinen Blick abrupt wieder auf Michael richtete, der mich die ganze Zeit über schweigend beobachtet haben musste. »Wissen Sie eigentlich, wo Dr. Schwarzer seine Kanzleiräume hat?«
Michael nickte langsam. Dass ich die Sprache ohne einen für ihn nachvollziehbaren Grund so plötzlich auf Dr. Schwarzers Büro gebracht hatte, überraschte ihn ersichtlich. Er sah mich misstrauisch an. Seine Augen, die er aufgrund der Müdigkeit ohnehin kaum richtig aufbekam, verengten sich noch mehr. »Dr. Schwarzers Kanzlei befindet sich zufälligerweise nicht weit vom Hauptgebäude des LKA entfernt, das in der Maillingerstraße im Stadtteil Maxvorstadt liegt. Aber aus welchem Grund wollen Sie das wissen, wenn ich fragen darf?«
Ich überlegte erst ein paar Sekunden, bevor ich ihm antwortete. Mir war nämlich schon im Voraus bewusst, dass ihn die Bitte, die ich an ihn richten wollte, vermutlich zunächst abschrecken würde. Dennoch war ich verzweifelt genug, das Wagnis einzugehen und zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass es momentan der einzig gangbare und beste Weg war, um an Informationen zu gelangen. Ich bemühte mich allerdings, meine Worte möglichst sorgfältig und behutsam zu formulieren, weil ich die Befürchtung hegte, er würde mich ansonsten gar nicht ausreden lassen, sondern schon gleich am Anfang abwinken und mich gar nicht zu Ende anhören.
»Wie Sie sicherlich wissen, war Dr. Schwarzer der Anwalt meiner Adoptiveltern«, begann ich und klärte ihn dann über ein paar Einzelheiten auf, die ich selbst erst wenige Stunden zuvor in der geheimen Bibliothek von Direktor Engel und Karl Augstein erfahren hatte. Ich erzählte ihm, dass ich gar nicht die leibliche Tochter der Dorns, sondern von diesen zusammen mit meinem Zwillingsbruder vor der Beschwörungszeremonie adoptiert worden war, und dass sämtliche Unterlagen über die Adoption bei einem rätselhaften Brand vernichtet worden waren. »Als Hausanwalt der Familie war Dr. Schwarzer mit ziemlicher Sicherheit über die Einzelheiten der Adoption informiert. Vermutlich war er sogar als rechtlicher Vertreter der Dorns persönlich an dem Verfahren beteiligt und bewahrt daher in seinen Kanzleiräumen möglicherweise Unterlagen darüber auf. Dokumente also, die ansonsten, wenn überhaupt, nur unter immensen Schwierigkeiten aufzutreiben sein dürften, für mich, meine unbekannte Vergangenheit und mein weiteres Leben aber von enormer Bedeutung sind. Diese Papiere können mir unter Umständen Auskunft darüber erteilen, wer ich in Wahrheit bin und woher – aus welchem Ort und aus welcher Familie – ich ursprünglich stamme. Sofern sie existieren, muss ich diese Unterlagen unbedingt haben, Michael! Und zu diesem Zweck muss ich irgendwie in Dr. Schwarzers Kanzlei kommen!«
Während der letzten Sätze war meine Stimme, ohne dass ich es gewollt hatte oder es mir überhaupt bewusst geworden war, beständig lauter geworden und hatte gleichzeitig einen immer verzweifelteren Unterton angenommen. Im Café herrschte um diese Zeit nur wenig Betrieb. Im Hintergrund war leise Musik zu hören. Es war also so ruhig, dass eine der beiden Servicekräfte hinter der Theke durch meine erhobene Stimme aus uns aufmerksam wurde und alarmiert zu uns herübersah. Sie musterte mich misstrauisch, als befürchtete sie, ich wäre betrunken und könnte ihr Arbeit und Ärger verursachen. Ich schenkte ihr ein betont übertriebenes Lächeln, um ihr zu demonstrieren, dass alles in Ordnung war und sie sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern sollte. Ob mein Blick sie eher beruhigte oder einschüchterte, wusste ich nicht. Allerdings sah sie rasch weg und widmete sich wieder ihrer augenblicklichen Tätigkeit, worin auch immer diese bestand.
Ich bemühte mich daraufhin, meine Stimme zu dämpfen und einen wesentlich ruhigeren Tonfall anzuschlagen, als ich rasch weitersprach. Ich ahnte, dass ich Michael noch nicht davon überzeugt hatte, dass mein Vorhaben sowohl gut als auch richtig war, und wollte ihm keine Zeit lassen, in Ruhe darüber nachzudenken und möglicherweise die unzähligen Haare in der Suppe zu finden. »Vielleicht entdecken wir in der Kanzlei auch Unterlagen über den Ort, an dem mein Zwillingsbruder sich momentan aufhält. Dr. Schwarzer und seine Gruppe müssen ihn irgendwo gefangen halten. Er ist möglicherweise schwer verletzt und braucht dringend ärztliche Hilfe. Unter Umständen können wir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auf diese Weise auch seinen Aufenthaltsort herausfinden. Denn wir müssen ihn unbedingt aus den Klauen dieser sogenannten Satanisten befreien, da diese Leute nicht zögern werden, ihn bedenkenlos für ihre wahnwitzigen Zwecke zu opfern.«
Anstatt erneut beständig lauter zu werden, war meine Stimme am Ende meines Vortrags zu einem Flüstern geworden, bevor sie schließlich ganz verstummte. Ich forschte in Michaels Gesicht nach einem Anhaltspunkt dafür, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vorging. Doch er sah mich noch immer völlig ausdruckslos an, und seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er von meinem Ansinnen hielt. Hätten wir Poker gespielt, hätte ich gegen ihn wohl im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten gehabt.
Verzweifelt suchte ich in meinem Verstand nach weiteren Argumenten, mit denen ich ihn überzeugen konnte, doch ich hatte bereits alle angeführt, die mir in meiner augenblicklichen Erregung eingefallen waren. Würde ich jetzt fortfahren, so würde ich mich nur wiederholen und womöglich sogar zu stottern anfangen. Das wollte ich nach Möglichkeit vermeiden, weshalb ich es für ratsam hielt, vorerst lieber die Klappe zu halten und gar nichts zu sagen, auch wenn es mir schwerfiel.
Auch Michael schwieg, ließ sich meine Worte augenscheinlich noch einmal gründlich durch den Kopf gehen und sah mich solang mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem nicht das Geringste zu lesen war, dass ich beinahe die Geduld verlor und trotz meines Vorsatzes, ruhig und abgeklärt zu wirken, aus der Haut fahren wollte. Mir wäre es