DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner
richtete mich rasch auf und rannte in den Gang. Dort wandte ich mich in Richtung Ausgang, musste allerdings die ständig anwachsende Menschentraube mit dem verzweifelten Klapp in ihrer Mitte passieren. Ich hoffte, dass der junge Mann mich nicht bemerkte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich seiner Haut zu erwehren. Und falls er mich doch beim Vorbeilaufen entdeckte, würde er dennoch nicht so leicht auf mich anlegen und schießen können, da er weiterhin vor dem Holzpflock auf der Hut sein musste und sich zudem ständig weitere Patienten als Deckung zwischen uns schoben.
Ich umrundete zuerst die Menschenansammlung und passierte anschließend das Schwesternzimmer, ohne einen lauten Ausruf von Klapp zu hören, der mir zeigte, dass er meinen Fluchtversuch registriert hatte. Beinahe wäre ich auf den zahllosen Glasscherben ausgerutscht, die von der gesplitterten Trennscheibe stammten und den Boden übersäten. Ich konnte meinen Körper gerade noch abfangen und ging anschließend vorsichtiger und langsamer über dieses Minenfeld aus glitzernden Scherben.
Ich wandte kurz die Augen vom Boden und warf einen raschen Blick ins Schwesternzimmer. Die Nachtschwester saß noch immer auf dem Drehstuhl. Allerdings war sie nun mit mehreren Mullbinden, die Gehrmann in einem der Schränke gefunden haben musste, gefesselt worden, damit sie nicht weglaufen und Hilfe holen konnte. Auch um den unteren Teil ihres Kopfes war eine Mullbinde geschlungen worden, die ihren Mund vollständig bedeckte und sie so daran hinderte, laut um Hilfe zu rufen. Die junge Frau verfolgte meinen Weg über den Scherbensee aus geweiteten Augen. Ich winkte ihr mit der freien Hand zu, froh darüber, dass sie unversehrt war und es ihr den Umständen entsprechend ganz gut ging. Doch mehr konnte ich im Moment nicht tun. Wollte ich sie befreien, würde mich das nur kostbare Zeit kosten, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr zur Verfügung hatte. Und am Ende würden wir beide geschnappt werden, wodurch sich meine persönliche Situation im Verhältnis zur augenblicklichen Lage wesentlich verschlechtert hätte. Außerdem ging ich davon aus, dass ihr nichts passieren würde, da es die Männer allein auf mich abgesehen hatten. Ansonsten hätte Gehrmann sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sie dermaßen zu verschnüren, sondern hätte sie gleich erschossen. Was die Männer mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekamen, stand hingegen auf einem ganz anderen Blatt und war mit Sicherheit um ein Vielfaches unangenehmer.
Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Weg und lief schneller, nachdem ich den mit Glasscherben bedeckten Bereich unfallfrei hinter mich gebracht hatte. Während des restlichen Weges bis zur Tür ins Treppenhaus hoffte ich, dass nicht nur der Nachtschwester, sondern auch den Patienten, die Klapp attackierten – und unter diesen natürlich insbesondere mein spezieller Freund van Helsing – keine Gewalt angetan wurde, da die Männer schließlich nur hier waren, um mich zu töten. Alle anderen hatten mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun und waren mehr oder weniger zufällig hineingeraten.
Ich hatte die Tür, die aus der Station führte – sie bestand aus zwei nahezu undurchsichtigen, gewellten Milchglasscheiben in einem metallenen Rahmen und wurde sonst ständig verschlossen gehalten –, fast erreicht, als im Treppenhaus erregte Stimmen und das Poltern schwerer, rasch näher kommender Schritte laut wurden.
Verdammt! Beinahe hätte ich es noch rechtzeitig geschafft. Doch die Verstärkung, die Klapp zu seiner Unterstützung herbeigerufen hatte, stand schon fast vor der Tür und versperrte mir dadurch den einzigen Fluchtweg, der gegenwärtig aus der abgesperrten Station des Sanatoriums nach draußen führte.
Kapitel 4
Ich lehnte mit dem Rücken gegen die Tür, die aufgrund der schweren Stiefeltritte schwach vibrierte. Während ich in der Dunkelheit stand und auf die lauten Geräusche horchte, die von den Männern verursacht wurden, die draußen im Flur vorbeirannten, hielt ich unwillkürlich den Atem an, obwohl meine Lunge nach dem Spurt durch den Gang und die anschließende panische Suche nach einem geeigneten und nahen Versteck nach Sauerstoff gierte und schon leicht zu schmerzen anfing.
Die Tür zum Treppenhaus direkt vor Augen, die wegen der Rufe und des Polterns wuchtiger Schritte auf der Treppe jedoch keine Rettung, sondern im Gegenteil einen baldigen Tod versprochen hatte, war ich vor lauter Frustration kurz davor gestanden, einfach aufzugeben und diesen Wahnsinn nicht länger mitzumachen. Denn ständig geriet ich in neue, schier ausweglose Situationen, vom Regen in die Traufe gewissermaßen. Und wenn ich endlich glaubte, einen Ausweg aus dem momentanen Dilemma gefunden zu haben, reckte schon das nächste Problem den Kopf und rief mir wie der schlaue Igel dem dämlichen Hasen zu: »Ich bin schon da!« Wieso, fragte ich mich, musste ausgerechnet mir immer wieder so etwas passieren? Womit hatte ich das alles auch nur ansatzweise verdient? Da mir mein bisheriges Leben noch immer weitgehend unbekannt war, konnte ich natürlich nicht sagen, ob ich unter Umständen genau das erntete, was ich irgendwann einmal gesät hatte. Aber da ich ein glühender Anhänger der Unschuldsvermutung war, hielt ich mich solang für schuldlos an allem, was mir widerfuhr, bis mir jemand verdammt noch eins das Gegenteil bewies.
Doch trotz all dieser negativen Gedanken gab ich dann doch nicht auf. Etwas tief in mir – mein starker Selbsterhaltungstrieb oder auch nur ein masochistisch veranlagter Teil meiner Persönlichkeit, der möglicherweise Gefallen daran fand, dass ich jedes Mal noch tiefer in der Scheiße landete – wollte sich nicht ergeben und in sein Schicksal fügen, sondern beschloss, dass längst noch nicht alles vorbei war.
Also bremste ich nur wenige Meter von der Tür entfernt, die mir einerseits die Flucht ermöglichen, andererseits aber auch jeden Moment noch mehr meiner potentiellen Mörder auf die Station strömen lassen würde, abrupt und aus vollem Lauf ab. Allenfalls für den Bruchteil eines Augenblicks blieb ich unentschlossen mitten im Gang stehen, während in meinem Innersten die Entscheidungsschlacht darüber ausgetragen wurde, was ich tun sollte. Aufgeben oder nach einem anderen Ausweg suchen. Der Wille, auch diese Episode mit heiler Haut zu überstehen, obsiegte in einem kurzen, erbittert geführten Gefecht und ließ meinen Blick anschließend hektisch umherfliegen auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich vor meinen rasch näher kommenden Häschern zu verstecken.
Die Stimmen und Schritte hörten sich mittlerweile schon so lärmend und nah an, dass ich jeden Moment damit rechnete, die Tür könnte aufschwingen und mir die Männer, wie viele es auch sein mochten, wie eine wilde Horde angreifender Indianer entgegenspeien.
Ich spürte bereits, dass ich mit jeder ergebnislos verstreichenden Sekunde panischer wurde, während meine Augen immer schneller und hektischer mal hierhin, mal dahin zuckten und sich mein Verstand gleichzeitig bemühte, die immer rascher in meinem Kopf aufblitzenden Bilder zu analysieren und nach Versteckmöglichkeiten zu durchforsten.
Da fiel mein Blick endlich auf eine unscheinbare Tür, die lediglich angelehnt war und einen winzigen Spaltbreit offen stand. Putzraum stand auf einem Schild neben der Tür. Meine rastlos suchenden Augen waren bereits zum nächsten Objekt weitergehuscht und hatten sich auf diesen Bereich fokussiert, bevor mein wesentlich bedächtiger funktionierendes Gehirn die Informationen verarbeitet und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte. Anscheinend wurden hinter der unscheinbaren Tür in einer kleinen Kammer die Arbeitsutensilien und Putzmittel der Reinigungskräfte aufbewahrt. Ich hätte eigentlich damit gerechnet, dass diese Tür ständig verschlossen war, damit keiner der Insassen an die giftigen oder ätzenden Reinigungsmittel gelangte und sie versehentlich oder absichtlich zu sich nahm. Wahrscheinlich hatte eine der Putzfrauen vergessen, sie nach der Arbeit wieder abzusperren. Was mein Glück war, denn ansonsten befand sich in unmittelbarer Nähe keine andere Möglichkeit, mich ebenso rasch und gut verstecken zu können.
Noch während ich die wenigen Schritte zur spaltbreit offenen Tür hastete, warf ich einen kurzen Blick in die Richtung, aus der ich zuvor gekommen war und wo der Tumult und das Geschrei immer lauter und vehementer wurden. Ich erkannte, dass die menschliche Traube, die sich um den Attentäter geschart hatte, noch größer geworden war und sich mittlerweile zahlreiche weitere Personen an dem Gerangel beteiligten. Entweder reagierten sie panisch und gewalttätig auf den ungewohnten Stress, oder sie wollten ihre Leidensgenossen gegen den Fremden in ihrer Mitte unterstützen.
Klapp drohte nun schon allein aufgrund der immensen Übermacht der Körper, die gegen ihn drängten, diesen Kampf zu verlieren. Anscheinend wusste er sich nicht mehr anders zu helfen, als nun doch seine Pistole einzusetzen, denn über die Köpfe der Leute hinweg konnte ich sehen, dass er