DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner
erster Linie erreichen, dass die Attentäter mir nachsetzten und die Patienten in Ruhe ließen, sobald sie erst einmal realisierten, dass es mir gelungen war, aus der Station zu entkommen. Deswegen konnte ich mich nicht einfach still und heimlich davonstehlen, sondern musste meinen Abhang effektvoller und publikumswirksamer inszenieren. Ich hoffte allerdings, dass tatsächlich alle Eindringlinge auf Klapps Hilferuf reagiert hatten und auf meinem Weg nach draußen nicht noch weitere Männer lauerten, die im nächsten Moment von dem noch reichlich konsterniert aus der Wäsche guckenden Klapp und seinen ebenso überrumpelten Kumpanen alarmiert werden würden.
Während sich der Lärm im nächsten Augenblick wie frisch entfesselt erhob, als wollte er das nach meinem schrillen Pfiff entstandene akustische Vakuum wieder so schnell wie möglich füllen, huschte ich bereits ins Treppenhaus und ließ die Tür los, die sich aufreizend langsam hinter mir schloss. Eilig lief ich die Stufen nach unten. Ich durfte keine einzige weitere Sekunde verlieren, denn die ersten Angreifer hatten sich bestimmt schon von ihrer Überraschung erholt und waren mir sicherlich bereits auf den Fersen.
Kapitel 5
Ich hatte Glück, denn mir stellte sich kein weiterer Eindringling in den Weg, als ich die Treppenstufen nach unten rannte. Als ich die ebenfalls unverschlossene Tür vom Treppenhaus zur Lobby passierte, konnte ich hören, dass die ersten Verfolger oben ins Treppenhaus stürmten.
So schnell wie möglich eilte ich durch den Empfangsbereich, in dem wie auch auf der Station und im Treppenhaus nur eine Notbeleuchtung brannte. Ich hatte keine Ahnung, was mit der Pflegekraft passiert war, die nachts die Lobby besetzt hielt, hoffte aber, dass sie wie die Nachtschwester unserer Station allenfalls gefesselt und geknebelt worden und ihr nichts Schlimmes widerfahren war. Ich hatte aber nicht die Zeit, einen raschen Blick hinter den Empfangstresen zu werfen und nachzusehen, denn die Verfolger waren mir bereits dichter auf den Fersen, als mir aufgrund ihrer weitreichenden Schusswaffen lieb sein konnte.
Ich stieß einen Flügel der gläsernen Eingangstür auf und rannte nach draußen in die Nacht, die von der schmalen Sichel des Mondes nur mäßig erhellt wurde. Am Ende der Zufahrt, die durch den parkähnlichen Erholungsbereich führte, konnte ich im Licht der Straßenbeleuchtung die Umgrenzungsmauer, die Schranke und das hohe, schmiedeeiserne Tor erkennen. Ein Flügel stand ein Stück offen und zeigte mir, wie und wo die Männer auf das Gelände gelangt waren.
Zum Glück erwartete mich auch im Freien niemand. Anscheinend hatten alle Eindringlinge auf den Hilferuf ihres jungen Kollegen reagiert und waren nach oben gerannt, um ihm zu helfen. Wenigstens ein Aspekt, der in dieser Nacht zu meinen Gunsten ausging, denn als ich die Eingangstür durchschritten hatte, hatte ich insgeheim damit gerechnet, wieder mitten in eine neue, noch ausweglosere Gefahrensituation zu schlittern.
Ich nahm mir aber nicht die Zeit, mir ob des Erfolgs des ersten Teils meiner Flucht auf die Schulter zu klopfen und die schöne Aussicht zu genießen, sondern rannte sofort los, weil ich bereits den sprichwörtlichen Atem meiner Verfolger im Nacken zu spüren glaubte. Ich lief über den Kies, der nur wenige Meter vom Haupteingang des Sanatoriums entfernt eine kreisförmige Fläche bildete, und dann den Weg entlang, der ohne Umwege zum Tor führte.
Kurz bevor ich den offen stehenden Torflügel erreichte, warf ich über die Schulter einen Blick zum Sanatoriumgebäude. In exakt diesem Moment öffnete sich die Eingangstür, und mehrere dunkle Silhouetten ergossen sich ins Freie. Sie orientierten sich rasch und rannten dann, nachdem sie mich entdeckt hatten – eine der Gestalten deutete mit der erhobenen Hand in meine Richtung und rief etwas Unverständliches –, hinter mir her.
Ich machte mir nicht die Mühe, die genaue Zahl meiner Verfolger festzustellen, sondern rannte durchs Tor auf die Straße. Unmittelbar neben dem Tor parkten am Straßenrand zwei dunkle Mercedes-Limousinen. Beide Fahrzeuge waren jedoch zu meiner Erleichterung verlassen.
Ich entschied mich aufs Geratewohl für die linke Seite und lief neben der Mauer entlang, die mich nicht nur vor den Blicken, sondern auch vor den Schusswaffen meiner Feinde abschirmte. Ich erreichte das Ende der Mauer an der Stelle, an der das Sanatoriumgrundstück aufhörte, und bog kurz darauf an der ersten Querstraße erneut nach links ab.
Während ich durch die nächtlichen Straßen rannte, fiel mir auf, dass ich noch immer die Pistole in der Hand hielt. Ich umklammerte den Griff der Waffe so fest, dass die Knöchel meiner verkrampften Finger ganz weiß waren. Gut, dass mir bisher niemand begegnet war, denn er hätte wohl den Schreck seines Lebens bekommen. Da keine unmittelbare Gefahr bestand und ich die Schusswaffe auch nicht einfach ins nächste Gebüsch oder in einen Mülleimer werfen wollte, sorgte ich dafür, dass die Pistole gesichert war, und steckte sie dann in den Bund meiner Jeans, wo sich das Metall kalt gegen meine Haut presste. Das T-Shirt ließ ich darüber fallen, sodass es die Waffe vor neugierigen Blicken verdeckte, solange ich mich nicht allzu sehr streckte.
Als ich im Sanatorium erwacht war, war der neue Tag erst eine halbe Stunde alt gewesen. Ich wusste allerdings nicht, wie spät es jetzt war, da ich aufgrund der dramatischen Ereignisse jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Auf den schmalen Nebenstraßen, denen ich eher intuitiv als planmäßig folgte, herrschte so gut wie kein Verkehr, und ich war bislang auch keinem einzigen Fußgänger begegnet. Die meisten Häuser waren dunkel, weil die Bewohner schon schliefen. Nur vereinzelt war ein Fenster erleuchtet, weil jemand las, Fernsehen schaute oder möglicherweise auch nur bei Licht eingeschlafen war.
Jeden Moment, so fürchtete ich, konnte eines der beiden dunklen Fahrzeuge, die ich vor dem Sanatoriumgelände gesehen hatte, hinter mir auftauchen. Ich sah mich ständig nervös um, doch ich konnte keinen meiner Verfolger entdecken. An jeder Kreuzung oder Einmündung bog ich vollkommen willkürlich nach rechts oder links ab, sodass ich zuletzt selbst nicht mehr den Weg zurück gefunden hätte.
Durch die ständigen Richtungswechsel wollte ich die Zahl meiner möglichen Fluchtwege dermaßen erhöhen, dass sie die Zahl meiner Verfolger deutlich überstieg. Dadurch wären sie gar nicht in der Lage, jede einzelne Route zu überprüfen. So hoffte ich, ihnen letztendlich entkommen zu können. Und wenn sie unter Umständen genauso orientierungslos waren wie ich, dann würde mir das unter Umständen sogar gelingen.
Als ich mich schließlich wieder etwas sicherer zu fühlen begann, weil ich sowohl eine ausreichend große Distanz zwischen mich und das Sanatorium gebracht hatte, als auch genügend Zeit verstrichen war, ohne dass mich die Attentäter erwischt hatten, verlangsamte ich meine Geschwindigkeit deutlich und marschierte in normalem Schritttempo weiter. Dabei sah ich mich aber immer noch ständig um, ob nicht doch noch ein dunkles Fahrzeug oder ein schwarz gekleideter Fußgänger aus der Dunkelheit hinter mir auftauchte.
Nachdem es allmählich ganz so aussah, als wäre ich den Männern tatsächlich entkommen, machte ich mir Gedanken darüber, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte kein Geld bei mir und kannte mich hier nicht aus. Aber selbst wenn ich den Weg gewusst hätte, hätte ich mich keineswegs schon jetzt zurück ins Sanatorium getraut. Zu groß war meine Angst, dort oder auf dem Weg dorthin den Männern zu begegnen, die mich aus einem mir unerfindlichen Grund unbedingt tot sehen wollten. Ich wusste auch nicht, wo Direktor Engel wohnte oder wie ich ihn erreichen konnte. Die Telefonnummer, die Gabriel auf seinem Mobiltelefon gespeichert hatte, hatte ich mir nämlich nicht gemerkt. Es hatte also ganz den Anschein, als wäre ich für den Augenblick zwar mit dem Leben davongekommen, nun aber allein und auf mich gestellt.
Da erinnerte ich mich an den Zettel mit Michaels Telefonnummer, der noch immer in der Gesäßtasche meiner Jeans steckte. Zum Glück hatte ich mich angezogen, bevor ich mich vor einer gefühlten halben Ewigkeit auf den Weg gemacht hatte, um nachzusehen, was der abgewürgte Schrei zu bedeuten hatte. Und das nicht nur, weil ich deswegen Michaels Nummer bei mir hatte, denn andernfalls müsste ich jetzt zu allem Verdruss auch noch im Nachthemd durch die Gegend marschieren.
Ich holte den Papierfetzen aus der Tasche. Dann entfaltete und glättete ich ihn sorgfältig mit den Fingern, bevor ich im Licht einer Straßenlaterne versuchte, die Nummer zu lesen. Anschließend drehte ich mich einmal um die eigene Achse und sah mich dabei aufmerksam in meiner augenblicklichen Umgebung um. Eine Telefonzelle, von denen es ohnehin nur noch wenige gab, war nirgendwo in Sicht. Allerdings hatte ich auch nicht das dafür nötige Kleingeld oder eine Telefonkarte einstecken. Ich erinnerte mich