Zwischen Knast und Alltag. Anita B.
vierzig Jahren, die Kinder wollen nicht mal zum Essen reinkommen und springen den ganzen Tag draußen umher. Nic läuft ständig rüber zu den Nachbarn. Ich begleite ihn jedes Mal mit den Worten: »Aber pass auf der Straße auf!«, was von ihm immer schön artig mit einem: »Ja-a!« beantwortet wird. Schon ist er wieder auf und davon zu seiner geliebten Cora, dem drolligen Schäferhundwelpen von nebenan.
Aber hey, Nic ist gerade drei Jahre alt und geht quasi das erste Mal allein aus dem Haus. Gut, es sind nur wenige Meter bis zum Nachbartor, doch auch das ist neu für den Jungen. Schließlich hat er, bis wir hierhergezogen sind, meine Hand nie losgelassen.
Ganz anders da unser Felix. Der ist seit er krabbeln kann selbstständig unterwegs und ist »der coolste Hund«, den man sich vorstellen kann. Der Ausdruck kommt natürlich nicht von mir, sondern von meinem Mitbewohner Hans. Richtig, einen Mitbewohner habe ich auch noch. Und zwar war Hans mein starker Halt, als ich nach einer großen menschlichen Enttäuschung meinen bisherigen Lebenstraum aufgeben musste und vor ungefähr einem halben Jahr plötzlich allein dastand.
Allein in München, mit zwei Kleinkindern und ohne Kitaplätze. Zumindest ohne bezahlbare Plätze, von einem privaten Kindergarten hatte ich ein Angebot. Nur wären da monatlich eintausend Euro fällig gewesen, plus fünfhundert Euro Aufnahmegebühr, pro Kind versteht sich. »Willkommen in München!« Alleinerziehend konnte und wollte ich mir diese Kosten nicht leisten. Also musste ich von heute auf morgen eine andere Lösung finden.
Im Juni vergangenen Jahres ging unsere Beziehung endgültig in die Brüche. Nachdem mein Ex zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten nur noch sporadisch nach Hause kam, entschlossen wir uns für eine gewisse Auszeit. Nic und Felix brauchten die nötige Ruhe, das richtige Umfeld, keinen weiteren familiären Stress und die Liebe und Geborgenheit, die wir ihnen gemeinsam nicht geben konnten.
Auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit
Alles scheint perfekt zu sein. Es ist Frühlingsanfang, die Kinder sind glücklich, die Sonne scheint, wir läuten am Abend die Grillsaison ein und doch fehlt etwas. Seit sechs Monaten wohnen wir nun schon hier in Aham, im tiefsten Niederbayern. Für die Jungs ein Traum, für mich als Stadtkind ist es jedoch eine sehr einsame Gegend. Mehr und mehr merke ich, dass ich etwas vermisse.
Gerade die letzten Wochen habe ich versucht, diese aufkeimende Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit so weit wie möglich von mir wegzuschieben. Allein die Tatsache, dass ich sehe, wie gut es den Jungs hier draußen geht und wie sehr der Alptraum, den wir hinter uns haben, zunehmend in Vergessenheit gerät, hindert mich daran den nächsten Schritt zu wagen.
Eigentlich sollte ich mich um eine Wohnung für uns kümmern, um endlich wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Aber ich schiebe diesen Part seit Wochen vor mir her. Ich rede mir ein, meine Jungs gehen vor. Wenn es ihnen gut geht, bin ich glücklich. Und den beiden geht es gut, sehr gut sogar. Auch sie haben in Hans einen super Freund gefunden. Wir unternehmen viel gemeinsam, sind oft draußen im Garten, auf dem Spielplatz, im Wald und auch zu Hause toben die Kinder wie verrückt. Oft habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn sie mit dem Bobby Car durchs Wohnzimmer flitzen und die Bälle mal wieder durchs Haus fliegen.
Gedankenversunken lehne ich mich zurück, genieße die letzten Sonnenstrahlen des Tages und sehe den Jungs beim Spielen zu. Blitzartig ist diese scheinbare Idylle vorbei. Hans, der den ganzen Nachmittag schon hin- und hergesimst hat, muss plötzlich noch mal weg. An seiner Reaktion erkenne ich, dass eine Frau dahinterstecken muss. Ein komisches Gefühl macht sich in mir breit. Ich meine, wir wohnen zusammen, sind in einem Alter, er ist attraktiv, einfühlsam, erfolgreich, die Kinder lieben ihn, genauso wie er sie, und trotzdem hat es bei mir nie gefunkt.
Obwohl ich ihm von Anfang an zu verstehen gab, dass wir nur Freunde bleiben werden, zögerte er keine Sekunde, uns vorübergehend bei sich aufzunehmen. Nachdem auch er zu diesem Zeitpunkt seit einigen Jahren single war, freute er sich über die Abwechslung und darüber, dass endlich Leben in sein Heim einkehren sollte. Und was könnte ich mir als Mutter mehr wünschen, als dass meine Kinder in einer Familie aufwachsen. Bisher war ich jedoch weder bereit für eine neue Beziehung, noch dachte ich, dass ich jemals wieder jemanden so lieben könnte wie den Vater meiner Jungs.
Nichtsdestotrotz verunsichert mich, dass Hans mit einer anderen Frau Nachrichten austauscht. Sei‘s drum, ich lösche das Licht und lege mich schlafen.
Doch dann kommt just an diesem Abend der Anruf von meinem Ex. Seit Wochen ahne ich es ja bereits, aber seine Worte lassen mir sofort die Tränen in die Augen steigen. Nach außen hin reagiere ich kalt und unberührt, als er mir mitteilt, dass er eine neue Freundin hat. Er möchte sie am kommenden Wochenende unseren Jungs vorstellen. Innerlich zerreißt es mich fast. War er nicht derjenige, der nach eigenen Worten alles falsch gemacht hatte. Er konnte meinen Auszug damals voll verstehen und er war ebenfalls der Meinung, dass uns diese vorübergehende räumliche Trennung guttun wird. Aber er wird die Türe niemals zumachen, wir könnten jederzeit zu ihm zurückkommen. Es war das erste Mal, dass ich ihn habe weinen sehen.
Und heute, wenige Monate später, ist dieser Mann, für den ich die ganzen Jahre so viel Kraft aufgebracht habe und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, wieder glücklich vereint mit einer anderen Frau. Trotz Vorahnung und der Tatsache, dass wir gemeinsam nie eine glückliche Zukunft gehabt hätten, bin ich wie vom Blitz getroffen. Es gibt nichts und niemanden, der mir in dieser Situation helfen kann. Ich liege wach in meinem Bett, drehe und wende mich gefühlte eintausend Mal und finde keine Ruhe.
Plötzlich kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, die wir hier wohnen. Von meiner Vergangenheit abgeschnitten, dreht sich mein ganzes Leben nur noch um die Kinder. Da mein Ex kein Auto hat, bringe ich ihm die beiden seit wir hier wohnen jeden zweiten Freitag und hole sie am Sonntag wieder ab. Bekomme ich dafür ein einziges Mal ein »Danke«? Nein! Im Gegenteil, ich kann froh sein, wenn ich ab und zu mit einem »Hallo« begrüßt werde, ansonsten erwarten mich genau wie all die Jahre zuvor nur Befehle und Verachtung.
Und jetzt? Was mache ich jetzt? Plötzlich schlägt meine Stimmung um und ich sehe nur noch die guten Seiten an ihm und all das, was ich nun endgültig verloren habe. Er ist der Papa meiner Jungs, die beiden lieben ihn. Auch wir hatten sehr schöne Tage miteinander. Wir sind gemeinsam einen Marathon gelaufen, waren zusammen an der Ostsee und wir hatten eine ähnliche Vorstellung von unserer Zukunft.
Ich zwinge mich, mir vor Augen zu führen, warum ich mich von diesem Mann getrennt habe. Noch einmal durchlebe ich unsere Beziehung im Schnelldurchgang, seine verachtenden Aussagen, unser liebloses Nebeneinander, seine jähzornigen Ausbrüche und die unzähligen Erniedrigungen der letzten fünf Jahre. Dennoch war ich stets für ihn da. Trotz Schwangerschaft und Vollzeitjob habe ich seine Doktorarbeit korrigiert und die Kinder praktisch allein aufgezogen, während er meist betrunken, schlecht gelaunt oder gar nicht anwesend war. Nie hat er mir den Rückhalt gegeben, den ich mir doch von Anfang an so sehnlichst gewünscht hatte. Ganz zu schweigen von seinen aggressiven Übergriffen, die ich immer wieder geduldet und weggesteckt habe.
Selbst als er mich mit unserem drei Monate alten Sohn, vierhundert Kilometer entfernt, ohne Auto sitzen ließ und nach einem Streit einfach abgefahren ist, habe ich ihm verziehen. Immer wieder bin ich zu ihm zurückgekehrt, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass unsere eigentlich so perfekte kleine Familie keine Chance haben sollte. Auch nach unserer Trennung habe ich gedanklich weiter an ihm festgehalten. Ein Fingerzeig von ihm, dass er Reue zeigt und künftig für seine Familie da sein möchte, ich wäre bestimmt wieder auf der Matte gestanden. Es kam jedoch nichts dergleichen.
Trotzdem empfand ich es bis zu seinem Anruf gerade als völlig normal, dass ich mir weiterhin Sorgen um ihn gemacht habe. Schließlich habe ich fünf Jahre mit ihm verbracht und bis zuletzt an einen gemeinsamen Lebenstraum geglaubt. Sollte ich diese Gefühle aufgrund einer räumlichen Trennung von heute auf morgen abschalten? Das konnte ich nicht. Ganz anders wohl er! Er ist wieder glücklich. Schon kommt mein Schmerz aufs Neue hoch und gerade nachts kann ich diese Gedanken einfach nicht abschalten.
Dabei ist es kaum sechs Monate her, als ich keine Nacht mehr schlafen konnte. Im Durchschnitt schaffte ich es auf maximal zwei Stunden, oft fand ich