NACHT ÜBER DUNKELHEIT. M. D. REDWOOD
»Das schließt aus, dass du von Adel bist.«
»Wenn du das sagst«, meinte Vigor. »Und was ist daran so wichtig?«
»Du könntest sonst mein bester Freund werden.«
»Oh, kann dir leider nichts versprechen«, erwiderte Vigor. »Die Schuhe hätte ich bis zum Waisenhaus ohnehin verloren, so wie alles andere auch. Ist trotzdem eher unwahrscheinlich.«
»Komm, wir gehen zurück«, sagte Volker grinsend, »du Bauer.«
»Vielleicht bin ich nicht einmal ein Bauer«, bemerkte Vigor. »Ich brauche auch noch einen Eimer Wasser.«
»Denn kriegen wir an jedem Brunnen voll.« Volker stand auf. Vigor sammelte seinen Eimer ein. „Es ist mir verboten, an einem Brunnen Wasser zu holen.“
„Das ist mir so was von Wurst.“
Die beiden Jungen schlenderten durch die Bäume. Obsidan folgte ihnen, ohne Volkers zu Tun, wie ein treuer Hund. Die Jungen erzählten sich gegenseitig alles mögliche, während sie durch den Wald schlenderten. Volker löcherte Vigor über dessen Alltag und Pläne im Waisenhaus, musste dafür im Gegenzug Vigor alles über das Großherzogtum und das Leben am Hof erklären.
Die Zeit verging wie im Flug und schließlich lichteten sich die Bäume und gaben den Blick über flache Hügel frei hin zum Dorf, welches irgendwo dahinter lag. An einem alten Einsiedlerhof, etwa sechs Kilometer vom Waisenhaus entfernt, hielten sie an einem Brunnen. Es war ein sehr alter Dreiseitenhof mit weitem Dachüberstand. Den u-förmigen Hof bildete ein einfaches Fachwerkhaus, mit zwei fast genauso hohen Scheunen als Anbauten. Nur das Wohnhaus hatte ein Obergeschoss, dass zur Hälfte bereits die Dachschräge war. Die Dächer waren allesamt mit Reet eingedeckt. Alles sah recht heruntergekommen aus. Der weiße Putz im Fachwerk war abgeblättert, die Dächer hatten Flicken und Trümmer oder Unrat lagen im Hof aus nackter Erde verstreut. Viele der dunklen Sprossenfenster des Wohnhauses verbargen sich hinter ihren olivfarbenen Läden. Bei den Offenen hing meist der Fensterladen krumm in der Angel. Die Scheunen bestanden aus langen, dunkelbraunen Dielen, bei denen helle Bretter die Nachbesserungen verrieten, welche nach oben stetig abnahmen. Der Hof war geschäftig. Etwa zehn Männer und Frauen verrichteten gerade ihre Arbeiten.
Als Vigor und Volker näher kamen, erkannten sie, dass der Hof nicht vergammelt war, sondern die Schäden alles recht frische Kampfspuren waren. Die in der Gegend hausenden Kreaturen ließen den Bewohnern nicht viel Frieden.
In der Mitte des Innenhofs war ein Steinbrunnen gemauert. Er hatte keine Seilwinde, sondern nur ein Strick lag daneben. Einkerbungen im Stein verrieten, dass auch dieser Brunnen einst ein Trägergerüst für eine Seilwinde gehabt hatte. Doch das war wohl schon lange verschwunden. Die beiden Jungen gingen an die Wasserstelle. Volker streckte auffordernd die Hand zu Vigor aus. »Darf ich bitten.«
»Es ist mir eine Freude.« Vigor ließ den Henkel des Eimers in Volkers Handfläche fallen. Volker knotete den Eimer an den Strick, doch der Hanf war sehr dick und widerspenstig. Volker musste mehrfach festzurren. Ein Mann kam von einem der Ställe herüber, nachdem drei andere ihn auf die beiden Jungen aufmerksam gemacht hatten. Das konnte Vigor daran erkennen, dass ein Knecht mit seiner Mistgabel in ihre Richtung deutete.
Der Mann war etwa fünfzig und kam von der anderen Seite, sodass er neben Vigor nur Volkers Oberkörper sehen konnte. Der große Junge ließ einen Eimer in den Schacht hinab. Obsidan hielt der Mann für eines seiner Pferde. Obwohl ihm hätte auffallen müssen, dass er einen Hengst von derartiger Zucht nicht besitzen konnte. Schließlich war er soviel wert, wie der ganze Hof. Doch der Mann war mehr auf die fremden Jungen bedacht und Obsidan hatte sich die Freiheit genommen, sich an einem ausgehöhlten, alten Baustamm zu erfrischen, der als Pferdetrog diente.
»Und Jungs, was macht ihr hier?«, rief der Mann schließlich. Seine leicht blau gefärbte Kleidung verriet Vigor, dass er ein hoher Angestellter auf dem Gut war. Vermutlich war die Farbe aus Holunderbeeren gewonnen, denn die färbten sogar, was sie gar nicht färben sollten.
»Wasser holen, Herr«, antwortete Vigor ehrlich. Er sah sich zu Volker um und flüsterte: »Was für eine Frage.«
Volker grinste und schwieg. Der schwere Holzeimer klatschte ins Wasser.
»Ihr seid nicht von hier«, schimpfte der Mann. »Ihr habt kein Recht.«
»Äh, es ist nur ein Eimer voll«, beschwichtigte Vigor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so knausrig war. Eine Wasserknappheit war im Großherzogtum schließlich unbekannt.
»Waisenhaus, was?« Der Mann schien nun noch aufgebrachter. »Macht das ihr weiterkommt!«
»Lass mich mal machen«, meinte Volker nun und drückte Vigor den Strick für den Eimer in die Hand. Vigor zog den schweren Eimer nach oben. Volker faltete die Hände auf dem Rücken zusammen.
»Ich denke, ich darf Wasser aus diesem Brunnen holen«, stellte Volker fest, während er den Brunnenstein umrundete. »Denkt Ihr nicht auch?«
»Ganz und gar ni...« Dann sah der Mann den Reiterstiefel, den Volker demonstrativ auf den Brunnensims stellte, um sich die festen Schnüre zu binden. Währenddessen blickte Volker den Mann erwartungsvoll an. Dieser stockte, dann fiel bei ihm der Groschen. Vigor konnte es förmlich in seinem Gesicht lesen, wie es sich von einer zornigen Strenge zu einer gütlichen Miene wandelte. »Königliche Hoheit, ich hatte Euch nicht erkannt. Verzeiht mir.«
Volker zuckte die Achseln. »Nichts passiert.«
»Es ist uns eine Ehre, dass Ihr unser Wasser zu nutzen gedenkt. Erlaubt mir mich vorzustellen«, sprach der Mann und als Volker keine ablehnende Geste machte, tat er auch so. »Ich bin Matthias Heuer, der Haushofmeister des Torfgründer Hofs und Euer ergebener Diener. Soll ich Euch einen Träger schicken?«
»Nein danke, wir sind bestens versorgt.« Volker kramte in seinem Lederbeutel, den er am Gürtel trug. Es musste sehr viel Inhalt darin sein, denn Volker kramte eine ganze Weile. Dann warf er eine kleine Geldmünze zum Haushofmeister. Doch Heuer konnte sie nicht fangen und sie fiel auf den Lehmboden vor dem Brunnen. Sie war so klein wie ein Daumennagel, aber glänzte golden. Heuer hob sie auf und sah Volker vor sich ungläubig an.
»Für Eure Mühen«, brummte Volker. »Und wir waren nicht hier.«
»Selbstverständlich nicht, Königliche Hoheit.« Der Haushofmeister verbeugte sich so tief, bis seine Nase den Erdboden berührte. Vigor sah, dass er dabei die Münze unauffällig zwischen die Zähne steckte, um zu überprüfen, ob sie beim Biss nachgab. Die Münze war weich, es war also Gold. Der Haushofmeister kam wieder nach oben.
»Wie Ihr wünscht«, sagte er schließlich und wandte sich ab. Dann scheuchte er die anderen Hofangestellten an ihre Arbeit.
Vigor hatte mittlerweile den Eimer über den Brunnenstein gehoben und grinste. »Was war das jetzt?«
»Bestechungsgeld«, antwortete Volker. »Der oberste Heimtrottel, muss ja nicht unbedingt wissen, woher sein Eimer leckeres Seewasser kommt.«
»Wenn ich wüsste, dass er das trinken würde«, sagte Vigor. »Dann würde ich jetzt hinein pinkeln.«
»Gute Idee«, lachte Volker. »Aber wahrscheinlich kriegt es doch eines der Pferde.«
»Darum macht es auch keinen Sinn.«
»Obsidan!« Das Pferd verließ die Tränke und trabte zu Volker. Dann stieß der Rappe mit der Nase an seine Hand.
»Ach so, du hattest heute noch nichts Süßes«, brummte Volker und kramte im gleichen Lederbeutel. Er holte ein Sammelsurium hervor. Darunter waren ein nachtblauer Feuerstein, ein goldener Pyrit, ein langes Stück Schnur, ein platter, runder Haferkeks, einen dunkelbraunen, unförmigen Klumpen, ein Stück Holz und mehrere Gold- und Silbermünzen, von denen einige dem Keks in Größe um nichts nachstanden. Volker pickte den Keks heraus und hielt ihn dem Pferd auf seiner Handfläche hin. Obsidan holte das Gebäck mit den Lippen von der Hand und kaute. Volker stopfte den Rest zurück. Vigor starrte Volker ungläubig an. »Sag mal, war das Zucker?«
»Ja,