Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Fjodor Dostojewski

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch - Fjodor Dostojewski


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weil ich dann doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein; dann besäße ich wenigstens eine gewissermaßen positive Eigenschaft, von der ich dann auch selbst überzeugt sein könnte. Frage: Wer ist das? Antwort: ein Faulpelz; aber ich bitte Sie, das hört sich doch äußerst angenehm an, das heißt, man ist definitiv bestimmt, das heißt, es gibt etwas, was sich über mich sagen läßt. »Ein Faulpelz!« – aber das ist doch Titel und Bestimmung, das ist doch eine Karriere, meine Herrschaften. Scherz beiseite, so ist es! Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied eines renommierten Vereins und achte mich unablässig. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, sich auf Lafitte-Weine zu verstehen. Er hielt das für einen ausgesprochenen Vorzug und zweifelte nie an sich selbst. Er starb nicht nur mit ruhigem, sondern mit einem triumphierenden Gewissen und war damit vollkommen im Recht. Denn hätte auch ich Karriere gemacht, ich wäre ein Faulpelz und Vielfraß geworden, doch beileibe kein gewöhnlicher, sondern einer mit Sinn für das Schöne und Erhabene. Was halten Sie davon? Ich träumte schon lange davon. Dieses ›Schöne und Erhabene‹ hat mir doch vierzig Jahre lang schwer im Magen gelegen; das sage ich jetzt, mit meinen vierzig Jahren, damals aber – oh, damals wäre alles ganz anders geworden! Damals hätte ich sofort eine entsprechende Tätigkeit gefunden – und zwar: auf das Wohl alles Schönen und Erhabenen zu trinken. Ich hätte jede Gelegenheit ergriffen, zuerst eine Träne in mein Glas fallen zu lassen und es dann auf das Wohl des Schönen und Erhabenen zu leeren. Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Erhabenes verwandelt und noch im ekelhaftesten, unzweifelhaften Schlamm Schönes und Erhabenes gefunden haben. Ich hätte die Gabe erlangt, Tränen zu vergießen wie ein nasser Schwamm. Der Maler Gay zum Beispiel malt ein Bild – sofort trinke ich auf die Gesundheit des Künstlers Gay, der das Bild gemalt hat, denn ich liebe alles Schöne und Erhabene. Ein Schriftsteller schreibt »wie es euch gefällt«; sofort trinke ich auf das Wohl dessen, »der euch gefällt«, denn ich liebe das Schöne und Erhabene. Achtung würde ich deshalb für mich heischen und jeden verfolgen, der mir nicht Achtung zollt. Ich lebe ruhig, ich sterbe feierlich – das ist ja reizend, wirklich reizend! Und was für einen Schmerbauch hätte ich mir zugelegt, welch dreifaches Doppelkinn! Über eine Schnapsnase würde ich verfügen, bei deren Anblick jeder ausrufen müßte: »Das ist aber ein Plus! Das ist mal wirklich was Positives!« Sagen Sie, was Sie wollen, meine Herrschaften, aber solche Äußerungen klingen doch in unserem negativen Zeitalter außerordentlich angenehm.

       VII

      Doch das sind alles goldene Träume. Oh, sagen Sie bitte, wer hat als erster verkündigt, wer zuerst bekanntgemacht, daß der Mensch nur deswegen Gemeinheiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne; und daß, wollte man ihn aufklären, ihm die Augen für diese wahren, normalen Interessen öffnen, der Mensch sofort aufhören würde, Gemeinheiten zu begehen; er würde gut und edel werden, denn einmal aufgeklärt und seinen eigentlichen Vorteil einsehend, müßte er seinen Vorteil in dem Guten finden, denn bekanntermaßen könne niemand vorsätzlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln. Folglich würde der aufgeklärte Mensch gewissermaßen aus Notdurft das Gute tun. O Unschuld! O heilige Unschuld! Wann ist es denn schon vorgekommen im Laufe all dieser verflossenen Jahrtausende, daß der Mensch einzig und allein um des eigenen Vorteils willen gehandelt hätte? Wohin mit den Millionen von Tatsachen, die da bezeugen, daß Menschen vorsätzlich, das heißt bei voller Einsicht in ihren wirklichen Vorteil, diesen dennoch hintansetzten und einen anderen Weg einschlugen, das Wagnis, das Geratewohl, von keinem und durch nichts dazu gezwungen, allein aus Auflehnung gegen den vorgezeichneten Weg, und sich hartnäckig und eigenwillig einen anderen, mühseligen, bahnten, einen absurden, zuweilen im Stockfinstern herumtappend. Das bedeutet doch, daß ihnen diese Hartnäckigkeit und dieser Eigenwille bei weitem lieber waren als jeder Vorteil … Vorteil! Was ist Vorteil? Könnten Sie sich etwa anmaßen, ganz genau anzugeben, worin eigentlich der menschliche Vorteil besteht, wenn es nicht selten vorkommt, daß der menschliche Vorteil nicht nur darin bestehen kann, sondern sogar bestehen muß, sich das Schlechte und nicht das Vorteilhafte zu wünschen? Sollte das aber sein, wird einmal die Möglichkeit eines solchen Falles zugegeben, so ist die ganze Regel über den Haufen geworfen. Und was meinen Sie, kann es einen solchen Fall geben oder nicht? Sie lachen; lachen Sie nur, meine Herrschaften, aber antworten Sie auch: Sind denn die menschlichen Vorteile richtig registriert? Gibt es nicht auch solche, die nicht nur nicht klassifiziert sind, sondern die sich überhaupt nicht klassifizieren lassen? Haben Sie doch, meine Herrschaften, soviel ich weiß, Ihr ganzes Register der menschlichen Vorteile dem statistischen Durchschnitt und den nationalökonomischen Formeln entnommen. Ihre Vorteile sind doch – Wohlergehen, Reichtum, Freiheit, Bequemlichkeit usw. usw., so daß ein Mensch, beispielsweise, der sich unmißverständlich und vorsätzlich gegen dieses Register auflehnt, nach Ihrer Meinung und, nun ja, selbstverständlich auch nach meiner, entweder ein Obskurant oder ein völlig Verrückter sein müßte, nicht wahr? Aber bei alledem ist doch eines verwunderlich: Wie kommt es, daß all diese Statistiker, Weisen und Menschenfreunde beim Errechnen der menschlichen Vorteile fortwährend einen ganz bestimmten Vorteil übersehen? Mit ihm wird gar nicht gerechnet, zumal nicht so, wie mit ihm gerechnet werden müßte, davon aber hängt die ganze Rechnung ab. Es wäre weiter kein besonderer Aufwand, man hätte diesen Vorteil in Augenschein nehmen und einfach auf die Liste setzen können. Das Unglück liegt aber darin, daß dieser eigenartige Vorteil sich überhaupt nicht klassifizieren und in keine Liste aufnehmen läßt. So habe ich zum Beispiel einen Freund … aber meine Herrschaften, er ist ja bestimmt auch Ihr Freund; und überhaupt, wessen Freund, ja wessen Freund ist er denn nicht? Angesichts einer Aufgabe wird dieser Herr Ihnen sofort beredt und deutlich auseinandersetzen, wie er gemäß den Gesetzen der Vernunft und der Wahrheit handeln muß. Nicht genug, er wird mit Feuer und Leidenschaft über die wahren, normalen menschlichen Interessen deklamieren; er wird spöttisch die kurzsichtigen Dummköpfe zurechtweisen, die weder ihre eigenen Vorteile noch die wahre Bedeutung der Tugend erkennen und – schon in der nächsten Viertelstunde, ohne jeden äußeren Anlaß, aber aus irgendeinem inneren, der sich stärker als all seine Interessen erweist, wird er einen Haken schlagen, das heißt, er wird offen gegen alles vorgehen, was er selbst behauptet hat: gegen die Gesetze der Vernunft, gegen den eigenen Vorteil, also, mit einem Wort, gegen alles. Ich möchte vorausschicken, daß mein Freund ein Kollektivum ist und daß es darum nicht gut angeht, ihn allein zu beschuldigen. Das ist es ja gerade, meine Herrschaften, gibt es denn nicht wirklich etwas, das fast jedem Menschen wertvoller ist als seine besten Vorteile? Man könnte wohl sagen (um nicht gegen die Logik zu verstoßen), es gibt da solch einen vorteilhaftesten Vorteil (eben den ausgelassenen, den wir vorhin erwähnten), einen Vorteil, wichtiger und vorteilhafter als alle anderen Vorteile, um dessentwillen der Mensch bereit ist, wenn es darauf ankommt, sämtliche Gesetze umzustoßen, das heißt, wider Vernunft, Ehre, Ruhe, Wohlergehen zu handeln – kurz, gegen all diese ausgezeichneten und nützlichen Werte, allein um diesen ureigenen, vorteilhaftesten Vorteil, der ihm am teuersten ist, zu erlangen.

      »Aber es geht doch wieder um Vorteile!« unterbrechen Sie mich.

      Erlauben Sie, meine Herrschaften, wir werden uns noch verständigen, mir ist es nicht um ein Wortspiel zu tun, sondern darum, daß dieser Vorteil gerade deswegen bemerkenswert ist, weil er unsere ganzen Klassifikationen zerstört und auch alle Systeme, die von den Menschenfreunden zum Wohl des Menschengeschlechts aufgestellt wurden, immer wieder sprengt. Kurz, er ist ein Hindernis. Aber bevor ich Ihnen diesen Vorteil nennen werde, möchte ich mich persönlich kompromittieren und verkünde darum dreist, daß all diese ausgezeichneten Systeme, diese ganzen Theorien zur Aufklärung der Menschheit über ihre eigentlichen, normalen Interessen, auf daß sie, zwangsläufig diesen Interessen nachgehend, sofort gut und edel werde – zunächst, meiner Meinung nach, nichts als Logistik sind. Jawohl, Logistik. Eine Theorie der Wiedererneuerung des Menschengeschlechts zu vertreten, z. B. durch das System der eigenen Vorteile, das ist meines Erachtens beinahe dasselbe, wie mit Buckle zu behaupten, der Mensch werde durch die Zivilisation sanfter, folglich weniger blutrünstig und weniger kriegslustig. Er kommt zu dieser Schlußfolgerung, glaube ich, gemäß der Logik. Der Mensch hat aber eine solche Vorliebe für Systeme und abstrakte Schlußfolgerungen, daß er bereit ist, die Wahrheit willentlich zu entstellen, sich Augen und Ohren zuzuhalten, nur um seine Logik zu rechtfertigen. Deswegen greife ich auch zu diesem Beispiel, weil es ein viel zu grelles Beispiel ist. Aber sehen Sie sich um: Blut fließt in Strömen, dazu noch auf die fidelste


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