Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Fjodor Dostojewski

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch - Fjodor Dostojewski


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ganzes Leben auf dreißig Jahre vorausberechnen; mit einem Wort, wenn es einmal dazu kommt, wird uns nichts mehr zu tun übrigbleiben: man wird alles begreifen müssen. Und überhaupt müssen wir uns unermüdlich vorsagen, daß in einem bestimmten Augenblick und unter gewissen Umständen die Natur sich über uns hinwegsetzt; man muß sie nehmen, wie sie ist, nicht aber so, wie wir sie uns zurechtphantasieren, und wenn wir tatsächlich auf die Tabelle, den Kalender, nun, und … meinetwegen auch auf die Retorte zustreben, so muß man – was will man schon machen – auch die Retorte akzeptieren! Andernfalls akzeptiert sie sich selbst über Ihren Kopf hinweg …«

      Jawohl, aber hier sehe ich einen Haken! Meine Herrschaften, Sie werden verzeihen, daß ich mich hinreißen lasse und zu philosophieren anfange; das sind die vierzig Jahre Kellerloch! Gestatten Sie mir zu phantasieren. Mit Verlaub: Verstand, meine Herrschaften, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten. Aber Verstand bleibt Verstand und genügt lediglich der Verstandesfähigkeit des Menschen. Das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt des ganzen menschlichen Lebens, sowohl Verstand als auch alles andere Jucken eingeschlossen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als rechte Nichtswürdigkeit erweist, ist es doch immerhin Leben und nicht nur Quadratwurzelziehen. Denn ganz selbstverständlich will ich leben, um meine gesamte Lebensfähigkeit zu befriedigen, nicht aber um zum Beispiel meiner Verstandesfähigkeit Genüge zu tun, das heißt irgendeinem zwanzigsten Teil meiner gesamten Lebensfähigkeit. Was weiß der Verstand? Der Verstand weiß nur das, was er schon erfahren hat (manches wird er unter Umständen nie erfahren: das ist zwar kein Trost, aber warum sollte es nicht einmal ausgesprochen werden?), die menschliche Natur aber wirkt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewußt und unbewußt, und lügt sie auch, so lebt sie doch. Ich vermute, meine Herrschaften, Sie schauen mitleidig auf mich herab. Sie wiederholen mir von neuem, daß es für einen gebildeten und entwickelten Menschen, kurz, für den künftigen Menschen, unmöglich sein werde, wissentlich etwas für ihn Unvorteilhaftes zu wünschen, daß dies Mathematik sei. Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, das ist wirklich Mathematik. Trotzdem aber sage ich Ihnen zum hundertsten Male: diesen Fall gibt es, einen einzigen Fall, in dem sich der Mensch absichtlich, wissentlich Schädliches, Dummes, ja sogar das Allerdümmste wünscht, und zwar: um das Recht zu haben, sich sogar das Dümmste wünschen zu können und nicht gebunden zu sein durch die Pflicht, sich nur Kluges wünschen zu müssen. Gerade dieses Allerdümmste, gerade diese eigene Laune kann ja, meine Herrschaften, in der Tat für unsereinen das Vorteilhafteste von allem sein, was es auf Erden gibt, zumal in gewissen Fällen. Insbesondere kann es sogar vorteilhafter sein als alle Vorteile, selbst dann, wenn es uns offensichtlich Schaden bringt und den allergesündesten Schlüssen unseres Verstandes über unsere Vorteile widerspricht – denn es erhält uns jedenfalls das Allerhauptsächlichste und Allerteuerste, unsere Persönlichkeit und unsere Individualität. Es gibt manche, die behaupten, daß eben diese für den Menschen wirklich das Teuerste seien; das Wollen kann freilich, sooft es will, mit dem Verstand übereinstimmen, besonders, wenn man letzteren nicht mißbraucht, sondern sich seiner maßvoll bedient; das ist sowohl bekömmlich als auch zuweilen lobenswert. Sehr oft aber widerspricht nun das Wollen dem Verstand entschieden und hartnäckig, und wissen Sie, daß auch das bekömmlich und sogar manches Mal sehr lobenswert ist? Meine Herrschaften, nehmen wir an, der Mensch sei nicht dumm (das kann man wirklich unter keinen Umständen von ihm behaupten, schon aus dem Grunde nicht, weil es, wenn er dumm sein sollte, überhaupt keinen Gescheiten gäbe), so ist er immerhin – ungeheuer undankbar! Phänomenal undankbar. Ich glaube sogar, die beste Definition des Menschen wäre die folgende: ein zweibeiniges undankbares Wesen. Aber das ist noch nicht alles; das ist noch nicht sein Hauptfehler; sein Hauptfehler ist beständige Unmanierlichkeit, anhaltend von der Sintflut bis zur Schleswig-Holsteinischen Periode der Menschheitsgeschichte. Unmanierlichkeit, folglich auch Unvernunft; denn es ist längst bekannt, daß Unvernunft nicht anders entsteht als durch Unmanierlichkeit. Versuchen Sie es, werfen Sie einen Blick auf die Geschichte der Menschheit: nun, und was sehen Sie? Großartiges? Meinetwegen auch Großartiges; allein schon der Koloß von Rhodos zum Beispiel, was der wert ist! Nicht umsonst bezeugt doch Herr Anajewskij, er werde einerseits für ein Werk von Menschenhand und, andererseits, für ein Naturwunder gehalten: kunterbunt? Meinetwegen auch kunterbunt: wollte man sich in den Paradeuniformen der Militärs und Staatsleute aller Jahrhunderte zurechtfinden, das würde schon reichen; rechnet man die Vizeuniformen mit, so könnte man vollends Hals und Bein brechen. Kein Historiker würde damit fertig. – Monotones? Nun, meinetwegen auch Monotones: man prügelt sich und prügelt sich, man prügelt sich heute, man hat sich früher geprügelt, und man wird sich auch in Zukunft prügeln – Sie müssen selbst zugeben, das ist gar zu monoton. Man kann alles über die Weltgeschichte behaupten, alles, was dem krausesten Hirn nur einfallen mag. Nur eines kann man nicht behaupten, nämlich: daß sie vernünftig sei. Sie werden sich beim ersten Wort verschlucken. Dabei kann man auf Schritt und Tritt folgende Erfahrung machen: Fortwährend begegnet man im Leben äußerst manierlichen und vernünftigen Menschen, Weisen und Menschenfreunden, die sich zum Ziel setzen, sich ihr Leben lang möglichst manierlich und vernünftig zu betragen, mit der eigenen Person den lieben Nächsten sozusagen eine Leuchte zu sein, und zwar nur, um ihnen zu beweisen, daß man in der Welt tatsächlich sowohl manierlich als auch vernünftig leben kann. Und weiter? Bekanntlich sind viele dieser Menschenfreunde sich früher oder später, manchmal auch erst am Lebensabend, untreu geworden, indem sie irgend etwas anstellten, zuweilen etwas äußerst Anstößiges. Jetzt frage ich Sie: Was kann man nun von dem Menschen erwarten, von einem Wesen, das mit solch sonderbaren Eigenschaften ausgestattet ist? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, ertränken Sie ihn in Glück bis über beide Ohren, so daß an der Oberfläche des Glücks nur noch Bläschen aufsteigen, wie im Wasser, verschaffen Sie ihm einen solchen Wohlstand, daß ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt, als zu schlafen, Pfefferkuchen zu knabbern und für den Fortgang der Weltgeschichte zu sorgen – so wird er Ihnen auch hier, dieser selbe Mensch, auch hier aus bloßer Undankbarkeit, aus Mutwillen einen Streich spielen. Er wird sogar die Pfefferkuchen aufs Spiel setzen und den verhängnisvollsten Unsinn wünschen, die unökonomischste Sinnlosigkeit, einzig, um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein eigenes, verhängnisvolles, phantastisches Element einfließen zu lassen. Gerade seine phantastischen Gedanken, seine trivialste Dummheit wird er sich erhalten wollen, einzig, um sich selbst zu bestätigen (als ob das so sehr nötig wäre), daß die Menschen immer noch Menschen und nicht Klaviertasten sind, auf denen die Naturgesetze zwar eigenhändig spielen, dafür aber auch sich dermaßen einzuspielen drohen, daß man außer dem Kalender überhaupt nichts mehr wird wünschen wollen. Und nicht genug damit: Selbst wenn er sich wirklich nur als Klaviertaste erweist und selbst wenn man es ihm sogar naturwissenschaftlich und mathematisch beweist, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, sondern im Gegenteil absichtlich Unheil stiften, einzig aus purer Undankbarkeit; eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehen. Falls er aber über keine ausreichenden Mittel dazu verfügen sollte, wird er sich Chaos und Zerstörung ausdenken, wird er sich alle möglichen Qualen ausdenken und in jedem Fall auf dem Seinen bestehen! Er wird der Welt fluchen, da aber nur der Mensch fluchen kann (das ist nun einmal sein Privilegium, das ihn vorzugsweise von den anderen Tieren unterscheidet), so wird er unter Umständen allein schon mit diesem Fluch das Seine erreichen, das heißt, er wird sich tatsächlich überzeugen, daß er ein Mensch und keine Klaviertaste ist. Sollten Sie behaupten, man könne auch dies nach der Tabelle berechnen, sowohl das Chaos als auch die Finsternis und den Fluch, so daß schon die Möglichkeit der Berechenbarkeit allem Einhalt gebietet und die Vernunft das letzte Wort behält – so wird der Mensch in diesem Fall absichtlich verrückt werden, um keinen Verstand mehr zu haben, um auf dem Seinen bestehen zu können. Ich glaube daran, ich bürge dafür, denn genaugenommen scheint das ganze Anliegen des Menschen tatsächlich bloß darin zu bestehen, daß der Mensch sich immerfort beweist, er sei ein Mensch und kein Stiftchen! Und wenn er es auch mit der eigenen Haut bezahlen müßte, er bewiese es doch; und wenn auch mit Troglodytentum, er bewiese es doch. Wie sollte man nun nicht die Sünde auf sich nehmen und sich selig preisen, daß es noch nicht soweit ist, daß das Wollen vorläufig noch weiß der Teufel wovon abhängt …

      Sie rufen mir zu (wenn Sie mich überhaupt noch des Anschreiens würdigen), daß mir doch niemand den Willen streitig mache; daß man es nur darauf anlege, alles irgendwie so einzurichten, daß mein Wille ganz von selbst, aus eigenem Willen, mit meinen normalen Interessen zusammenfalle, mit den Naturgesetzen


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