Freundlicher Tod. Ute Dombrowski

Freundlicher Tod - Ute Dombrowski


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Zimmer.

      Am kommenden Morgen rief er den Arzt und setzte sich weinend an Sarahs Bett. Er hielt ihre Hand, bis Dr. Worges den Totenschein ausgefüllt und ihm sein Beileid ausgesprochen hatte. Der Facharzt, der Sarah seit dem Unfall betreut hatte, war im Urlaub und hatte für dieses Wochenende die Verantwortung an den Hausarzt der Familie übergeben.

      Der Unfall vor eineinhalb Jahren hatte die Familie aus der Bahn geworfen. Ein Lkw war von rechts aus einer Seitenstraße gekommen und hatte das kleine Auto des Vaters übersehen. Der Aufprall war unausweichlich gewesen und Sarah, die auf dem Beifahrersitz gesessen und ihrer Prüfung entgegengefiebert hatte, musste später schwer verletzt aus dem Wrack herausgeschnitten werden. Dem Vater war kaum etwas passiert, er hatte sich den Arm gebrochen und die Kniescheibe war herausgerutscht. Sarah aber lag nach einer schweren Schädelverletzung immer noch im Koma.

      Dörte Retzanski hatte ihr Kind vor sechs Monaten nach Hause geholt und pflegte es liebevoll. Allerdings stieß sie mehr und mehr an ihre körperlichen Grenzen und nachdem sie im Oktober einmal einfach vor Erschöpfung umgefallen war, gab es regelmäßig freie Wochenenden für sie, an denen sich Alexander um Sarah kümmerte. Bisher war alles gut gegangen, aber der junge Mann war so erschüttert über den Zustand seiner kleinen Schwester, die er über alles liebte, dass er eines Tages beschlossen hatte, sie von ihrem Leiden zu erlösen.

      Er kannte sie als ausgelassen und fröhlich, sie war aktiv und hatte sich an dem Tag, als er passiert war, auf dem Weg zur Examenslehrprobe befunden, die letzte große Prüfung, bevor sie Lehrerin sein würde. Sarah mochte Kinder genauso gern wie Alexander.

      Am Abend zuvor hatte sie dem Vater erklärt: „Papa, ich bin viel zu aufgeregt, kannst du mich morgen früh zur Schule bringen?“

      „Aber natürlich, mein Kind, nicht, dass du noch einen Unfall baust, weil du nur an die Prüfung denkst.“

      Klaas Retzanski fühlte sich seitdem schuldig und litt wie ein Hund, wenn er hinter seiner Frau ins Krankenhaus schlich, wo sein kleines Mädchen in den weißen Kissen wie tot aussah. Die Geräte waren da und überwachten alle lebensnotwendigen Funktionen. Klaas schlief wenig, stürzte sich in die Arbeit und machte sich Vorwürfe. Seit dem Tag, an dem seine Frau Sarah nach Hause geholt hatte, verkroch er sich in der Apotheke und kam nur noch selten heim. Er schlief im Hinterzimmer und war bald blass und ausgemergelt.

      Dörte aber blühte auf und sprach jeden Tag mit Sarah, denn der Arzt hatte gesagt, dass es möglich war, dass die junge Frau eines Tages wieder aus dem Koma aufwachen würde.

      „Wie wird es ihr dann gehen? Wird sie noch die Alte sein?“, hatte sie hoffnungsvoll gefragt.

      „Ich kann es nicht sagen, das ist ein Thema, das noch weit weg ist. Frau Retzanski, wir müssen hoffen und ich verspreche Ihnen, dass ich alles dafür tun werde, dass Sarah wieder aufwacht. Das ist wenig, aber sie lebt und dafür müssen wir dankbar sein.“

      „Was wird denn, wenn sie nicht mehr klar denken kann? Wenn sie ein Pflegefall bleibt?“

      „Das überlegen wir, wenn sie aufgewacht ist, einverstanden?“

      Dörte hatte genickt, die Hand ihres Sohnes genommen und ihn angesehen.

      „Sie schafft das, sie ist stark.“

      „Ja, Mama, Sarah haut so schnell nichts um.“

      Alexander wollte seiner Mutter nicht wehtun, aber er hatte die Hoffnung aufgegeben und viel im Internet recherchiert. Es konnte sein, dass Sarah ein sabberndes, grinsendes Mädchen sein würde, die nicht mehr selbständig atmete oder es konnte sein, dass sie jahrelang mit offenen Augen zur Decke starrte. Nein, so wollte er seine Sarah auf keinen Fall zurückhaben.

      Später hatte Mama von den schwindenden Muskeln geredet und wie schwer der jungen Frau das Atmen fiel. Mitleid war es, Mitleid mit seiner Mutter, die in ihm den Gedanken an Erlösung weckte. Sarah würde dieses elende Leben friedlich verlassen und alle Last wäre fort. Alexander fühlte sich wichtig und wie der Retter der Welt. Sarah zu verlieren war sicher schwer, aber sie leiden zu sehen, würde viel schwerer sein.

      2

      Bianca und Michael lebten wieder zusammen, aber der schreckliche Fall hatte die Kommissarin damals nicht ruhig schlafen lassen. Die Psychologin hatte sowohl Bianca als auch Michael noch ein halbes Jahr lang betreut, damit sie mit dem Psychopathen, der sie eiskalt in seine perfiden Pläne einbezogen hatte, abschließen konnten. Benedikt hatte seine Bekanntschaft mit Natascha vertieft, aber die Tatsache, dass die Frau als Journalistin mehr unterwegs als daheim war, hatte die Beziehung schnell abkühlen lassen. Fabienne war weggezogen, denn sie hatte die Umgebung, die sie an die schrecklichen Erlebnisse erinnerte, nicht mehr ertragen können.

      Ebenfalls seit einem halben Jahr war Bianca nun ganz offiziell die Leiterin der Dienststelle, aber ihren Kaffee trank sie immer gerne im Büro von Michael und Benedikt. So konnten sie auch über anfallende Arbeiten sprechen.

      Vor einem Monat war Bianca siebenunddreißig geworden und kurz vor Weihnachten würden sie zwei Tage wegfahren, um Michaels runden Geburtstag in gemütlicher Zweisamkeit zu feiern.

      „Vierzig, du Armer. Oha. Dann gehörst du zu den alten Männern“, stichelte Benedikt. „Aber keine Sorge, ich helfe dir gerne über die Straße.“

      „Arsch“, erwiderte Michael lachend.

      Sie waren ein gutes Team geworden und es hatte sich auch bewahrheitet, dass Bianca ab und zu mit hinausfuhr. Es war ihre große Sorge gewesen, dass sie im Büro versauern würde.

      In den letzten Monaten war es sehr ruhig gewesen, außer ein paar Kleinigkeiten gab es keine spektakulären Fälle. Bianca und Michael liebten sich, redeten viel, unternahmen am Wochenende auch ab und zu etwas mit Benedikt oder machten endlose Spaziergänge am Rhein oder in den Weinbergen. Heute war Sonntag und sie kamen eben von einem schönen Essen am Anleger im Städtchen Eltville, das nicht nur ihr Arbeitsort, sondern ihr Zuhause geworden war. So wunderten sie sich auch nicht, dass sie von einigen Spaziergängern gegrüßt wurden.

      „Es ist zurzeit angenehm ruhig, ich bin froh, dass wir diesen Psychopathen los sind“, sagte Bianca, die sich auf der Bank am Rhein an Michael gelehnt hatte.

      „Ach Süße. Du hast doch gehört, was Cordelia gesagt hat: Er trug eine perfekte Maske und niemand kann in die Seele eines Menschen schauen.“

      „Ich dachte aber immer, dass ich das kann. Meine Instinkte hatten mich bis dahin noch nie verlassen und wenn ich überlege, dass ich ja am Anfang unserer Bekanntschaft kein gutes Gefühl hatte, so muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, wann und warum mir der Instinkt verloren ging. Ach könnte man doch den Menschen in den Kopf schauen, dann würde sich so manches Verbrechen verhindern lassen.“

      Michael lachte und schaute dem jungen blonden Mann hinterher, der mit hängenden Schultern an ihnen vorüberschlich. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet und er schien sie nicht zu bemerken.

      „Sieh dir den armen Kerl an, was denkst du, was hinter seiner Stirn vor sich geht?“

      „Vielleicht hat er Liebeskummer? Er sah so traurig aus. Wollen wir ihn fragen?“

      „Spinnst du?!“, rief Michael und riss die Augen auf. „Das ist doch voll peinlich.“

      „Dann sag mir doch mal, was ich gerade denke!“

      Michael küsste Bianca und grinste.

      „Du denkst dasselbe wie ich. Komm schnell nach Hause, ich will das auch! Außerdem ist es kalt.“

      Sie standen auf und folgten dem Mann mit einigem Abstand. Als sie ihre Wohnung erreicht hatten, fielen sie übereinander her und hatten den Spaziergänger schon wieder vergessen.

      Michaels Geburtstag ging vorüber, Weihnachten verbrachten sie zuhause und zum Jahreswechsel wollten sie mit Benedikt essen gehen, der anschließend zu einer Party eingeladen war.

      Einen Tag vor Silvester läutete um zehn Uhr das Telefon und Michael nahm ab. Er horchte in den Hörer, dann sah Benedikt, wie sich


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