App to Date. Carine Bernard
einen Strich.
Jenny sah aus dem Fenster, es hatte zu regnen begonnen, Regenschirme bevölkerten die Straße, und die Menschen beeilten sich, ins Trockene zu kommen.
»Bei uns in München liegt Schnee«, bemerkte Marc. »Es ist letzte Woche noch einmal richtig kalt geworden.«
»Schnee hatten wir dieses Jahr noch gar nicht«, erwiderte Jenny. »Nur Regen.«
»Düsseldorf, die Stadt mit vierhundert Regentagen pro Jahr«, spottete er und verzog das Gesicht. »Jetzt weiß ich wieder, warum ich weggegangen bin.«
Jenny boxte ihn spielerisch gegen den Arm. »Du bist doch gerade erst angekommen und willst schon wieder weg?«
»Aber nein, ich mache nur Spaß.« Marc nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Ich vermisse das alles hier wirklich.«
Er zog die Speisekarte heran und schlug sie auf. »Was möchtest du?«
Jenny vertiefte sich ebenfalls in die Karte. »Ich probiere die Gemüsepfanne«, entschied sie.
»Und ich nehme den Sauerbraten und hinterher Apfelkuchen.«
»Weißt du schon, was du machen wirst, wenn du mit deinem Masterstudium fertig bist?«, fragte Marc, nachdem der Kellner die Teller abgeräumt hatte.
Jenny schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, ich würde mich zur Therapeutin ausbilden lassen, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Warum fragst du?«
»Du weißt ja, dass ich in der Marktforschung arbeite.«
Jenny nickte.
»Wir entwickeln Testumgebungen für neue Produkte, aber nicht nur im technischen Sinn. Wir vergleichen auch Dinge wie Usability, Kundenerwartung, Kaufwille, Needability. Da gehört das Marketing genauso dazu wie die Farbgebung eines neuen Produkts oder irgendwelche Alleinstellungsmerkmale.«
Jenny sah ihn überrascht an. »Und was hat das mit mir zu tun?«
»Wir beschäftigen auch einige Psychologen«, erwiderte Marc. »Wenn du also mal einen Job brauchst …«
Jenny lachte. »Danke, das ist lieb von dir. Aber ich arbeite lieber mit Menschen als mit Computern.«
»Da fällt mir ein, ich habe dir etwas mitgebracht.«
Er öffnete seinen Rucksack und brachte einen kleinen flachen Karton zum Vorschein. Jenny nahm ihn entgegen und musterte ihn neugierig. Er war unverpackt, hatte keinen Aufdruck und war ziemlich schwer.
»Was ist es?«
»Mach es auf.« Marc grinste spitzbübisch.
Jenny schob die Lasche zur Seite und klappte den Deckel auf. Ihre Augen wurden groß.
»Aber Marc, das geht doch nicht!« Mit spitzen Fingern nahm sie ein Handy aus der Aussparung. Es war groß, fast so groß wie eine Tafel Schokolade, und schimmerte in mattem Gold.
»Das ist das neueste Modell«, erklärte Marc stolz. »Ich habe es dir schon eingerichtet, du musst nur noch deine SIM-Karte einstecken und dich anmelden.«
»Das ist doch viel zu teuer!« Sie legte es in die Schachtel zurück und schob sie von sich weg.
»Blödsinn«, erwiderte Marc und nahm das Handy wieder heraus. »Ich habe es nicht gekauft, es stammt aus unserer letzten Testreihe. Aber es ist so gut wie neu, und zu Weihnachten hat unser Chef die Geräte an die Mitarbeiter verteilt.«
»Wieso behältst du es denn nicht selbst?«
»Was soll ich mit einem goldenen Handy?« Marc verzog abfällig das Gesicht. »Das ist was für Mädchen. Außerdem habe ich eines, ich brauche kein neues.« Er zog ein schlankes stahlgraues Telefon aus der Gesäßtasche seiner Jeans, das in seiner großen Hand fast verschwand. »Siehst du?«
Jenny schluckte. Ihr eigenes Handy war nichts Besonderes, aber sie stellte daran auch keine großen Ansprüche. Marc wartete auf ihre Reaktion, und in seinen Augenwinkeln lauerte schon ängstlich die Enttäuschung.
»Danke, Marc.« Jenny lächelte ihn an. »Wenn das so ist, dann nehme ich es gerne an.«
Marc strahlte. »Ich wusste doch, dass es dir gefällt.« Er öffnete eine Klappe an der Seite des Geräts. »Gib mir dein Handy, ich stecke die SIM-Karte gleich für dich um.«
Zögernd nahm Jenny ihr Smartphone aus der Tasche. »Was ist mit meinen Daten?«
»Die sind doch in der Cloud, Dummerchen. Sobald du dich angemeldet hast, wird alles automatisch übertragen.«
Mit einem melodiösen Dreiklang wurde der Bildschirm hell, und der Startbildschirm erschien.
»Hier, gib deine Zugangsdaten ein.«
Jenny tat wie geheißen und sah staunend zu, wie sich die Statusleiste mit Leben füllte. Nach wenigen Minuten war alles erledigt.
»Nun sollte alles so sein wie vorher«, sagte Marc.
»So wie vorher?« Jenny lachte. »Wohl kaum.«
»Besser als vorher«, stimmte Marc schmunzelnd zu. »Vor allem die Kamera ist eine Wucht. Sie hat 24 Megapixel, kannst du dir das vorstellen?«
Jenny schüttelte stumm den Kopf. Nein, sie konnte sich darunter gar nichts vorstellen, aber sie erkannte das Icon der Kamera-App in der unteren Ecke und rief sie auf. Sie richtete das Telefon auf Marcs Gesicht und drückte auf den Auslöser. Trotz des gedämpften Lichts in der Gaststube wurde es ein perfekt belichtetes, scharfes Foto.
»Das ist super«, murmelte sie und sah hoch. »Nein, es ist wundervoll!«
Marc zwinkerte ihr zu. »Was macht eigentlich die Liebe?«, fragte er unvermittelt.
Jenny sah zur Seite. »Liebe?« Im Augenblick traf sie Verabredungen nur aus wissenschaftlichem Interesse, aber das konnte sie ihm nicht gut sagen. »Dafür habe ich doch gar keine Zeit!«
»Keine Zeit für die Liebe? Schwesterherz, das ist nicht dein Ernst!«
»Ich stecke mitten in meiner Masterarbeit«, verteidigte sie sich halbherzig. »Ich habe wirklich keinen Nerv, auch noch auf die Piste zu gehen.«
»Ich frage mich gerade …«
»Was denn?«
»Es gibt da eine neue App, mit der man Leute daten kann, die ist richtig gut. Ich glaube, die solltest du mal ausprobieren.«
»Eine App?« Jenny wurde heiß und kalt. Er meinte doch nicht etwa …
»Sie heißt App2Date.«
Jenny schloss für einen kurzen Moment die Augen. Doch, er meinte genau das.
»Sie wurde von Psychologen entwickelt«, fuhr Marc fort, »und wirklich alle reden momentan darüber. Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht davon gehört hast.«
Wieso fing ihr Bruder ausgerechnet jetzt mit der App an? »Ich, äh, weißt du …«
Marc grinste sie an. »Gib mir noch mal dein Handy, ich installiere sie dir.«
»Marc, nein, ich will das nicht. Ich …« Verflixt, wie kam sie aus der Nummer wieder heraus, ohne ihm alles zu verraten?
»Keine Widerrede. Gib her!« Er sah sie streng an. »Du kannst nicht immer nur über deinen Büchern sitzen, du musst endlich in der Neuzeit ankommen.«
Jenny seufzte resigniert und schob ihm das goldene Handy hin. »Bitte schön.« Zum Glück hatte er keine Ahnung.
Es dauerte nicht lange, und auf dem Display leuchtete das bunte Logo von App2Date auf. Es drehte sich wie ein Globus, während die App ihre Daten scannte.
Du lieber Himmel! Ihr Dozent hatte sie eindringlich davor gewarnt, nein, ihnen geradezu verboten, die Client-Version der App selbst zu benutzen. Aber nun war es zu spät. Wenn sie das Erstellen des Profils jetzt abbräche, müsste sie es Marc erklären, und das ging erst recht nicht. Niemand durfte davon wissen,