ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR. Eberhard Weidner
»Wir hätten doch jederzeit anhalten können.«
»Schon. Aber ich wollte nicht in die Wüste machen.«
Günther stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel. »Wieso denn nicht? Da war doch genug Platz.«
»Na ja«, druckste Silke herum. »Da wächst doch kaum was. Also kann man sich auch nirgends verstecken, um in Ruhe sein Geschäft zu verrichten. Wenn nun aber jemand vorbeikommt, während ich gerade mit heruntergelassener Hose im Sand hocke?«
»Wer hätte denn bitteschön vorbeikommen sollen?«, fragte Günther lachend. »Wir sind jetzt fast vier Stunden auf dieser gottverlassenen Straße unterwegs gewesen, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen.«
»Hast du eine Ahnung. Wenn ich meine Shorts heruntergelassen hätte, dann wäre garantiert genau in diesem Augenblick jemand vorbeigekommen. Wahrscheinlich sogar ein ganzer Bus voller Leute, die ihre Nasen an den Scheiben platt gedrückt hätten, um einen Blick auf meinen blassen Po zu erhaschen«, beharrte Silke. »Außerdem gibt es in der Wüste keinen Schatten. Ich hätte wahrscheinlich schon einen Sonnenbrand auf dem Hintern bekommen, bevor ich ihn überhaupt ganz aus der Hose gehabt hätte.«
»Ich hätte ihn dir mit Vergnügen eingecremt, meine Liebe.«
»Das kann ich mir vorstellen, du alter Lüstling. Aber denk doch nur mal an all die Viecher, die in der Wüste krabbeln und kriechen: Klapperschlangen, Skorpione, Spinnen – und dann diese riesigen giftigen Eidechsen, wie immer die auch heißen …« Silke verzog angewidert das Gesicht, während sie die Tierarten an den Fingern ihrer rechten Hand abzählte, ehe ihr keine mehr einfielen.
»Gila-Krustenechsen«, half Günther aus. »Aber lass gut sein, langsam kapiere ich ja, warum du nicht in die Wüste machen wolltest. Zum Glück sind wir ja wieder in die Zivilisation – oder zumindest in eine merkwürdige Form davon – zurückgekehrt. Also lass uns in den Saloon gehen, bevor wir am Ende noch beide in die Hose machen.«
Als sie die Türen des klimatisierten Mietwagens öffneten, traf sie die Hitze wie ein Faustschlag. Sie beeilten sich daher, in das kühlere Innere des Gebäudes zu kommen, aber als sie die stilechten Schwingtüren des Saloons erreichten, waren sie längst nassgeschwitzt. Günther schob eine der beiden hölzernen Türklappen zur Seite und ließ seiner Frau den Vortritt.
Das Innere des Saloons war ebenfalls klimatisiert und angenehm kühl. Im Hintergrund lief leise Countrymusik, die gegen das laute Summen der Klimaanlage allerdings einen schweren Stand hatte.
»Bestell mir bitte irgendetwas Eisgekühltes zu trinken«, bat Silke ihren Mann, ehe sie eilig eine Tür im Hintergrund des Raums ansteuerte, hinter der sich, nach dem Schild mit der Aufschrift Ladies & Gents zu urteilen, die Toiletten befinden mussten.
Günther wählte einen kleinen, runden Tisch am Fenster, so weit wie möglich von der lärmenden Klimaanlage entfernt, und setzte sich. Die Main Street war menschenleer, was bei der momentanen mörderischen Hitze allerdings kein Wunder war. Es war früher Nachmittag, und die Sonne stand noch hoch am Himmel. Jeder, der nicht unbedingt nach draußen musste, verkroch sich wahrscheinlich im Schatten und nahm kühle Getränke zu sich, um nicht auszutrocknen.
Günther zupfte an dem feuchten T-Shirt herum, das unangenehm auf seiner nassgeschwitzten Haut klebte, und blickte sich im Saloon um. Auch hier hielt sich außer ihm niemand auf, sogar die lange Theke war unbesetzt. Vielleicht lebte in dieser merkwürdigen Stadt ja gar niemand, und alles war tatsächlich nur eine große, längst vergessene und verlassene Filmkulisse. Andererseits standen zu beiden Seiten der Hauptstraße Autos vor den Häusern. Also musste irgendjemand hier sein.
Günther überlegte gerade, wie er sich bemerkbar machen könnte, als eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die einen Cowboyhut, ein besticktes Westernhemd, Jeans und Cowboystiefel trug, aus einer Seitentür kam. Sie sah ihn und kam sofort lächelnd auf ihn zu.
»Hi, was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie freundlich im deutlich dialektgefärbten Amerikanisch dieser Region, und Günther bestellte zwei Coke mit Eis.
Als Silke von der Toilette zurückkam, hatte er seine Cola schon zur Hälfte geleert und presste sich das kühle Glas gegen die Stirn.
»Puh, das war wirklich Rettung in allerletzter Sekunde«, sagte seine Frau, während sie sich auf den freien Stuhl ihm gegenüber setzte, und stürzte sich gierig auf ihr Getränk. »Oh, das tut jetzt richtig gut.« Nachdem sie das halb leere Glas abgesetzt hatte, musterte die Straße durch die staubige Scheibe. »Viel ist hier aber nicht gerade los, oder?«
Günther zuckte mit den Schultern. »Was erwartest du denn bei diesen Temperaturen?«
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir kaufen neue Filme und schießen ein paar Fotos. Dann setzen wir uns schnell wieder in unser voll klimatisiertes Auto und fahren irgendwohin, wo es angenehmer und vor allem mehr los ist.«
Als die Bedienung das nächste Mal an ihren Tisch kam, um sich zu erkundigen, ob sie noch etwas trinken wollten, bezahlten sie.
»Entschuldigen Sie, Miss, aber wissen Sie zufällig, wo wir hier in der Nähe Filme für unseren Fotoapparat kaufen können?«, fragte Günther.
»Kein Problem. Wenn Sie sich vor dem Eingang nach rechts wenden, finden Sie drei Häuser weiter einen Drugstore. Dort bekommen Sie auch Ihre Filme«, erklärte das Cowgirl freundlich.
Günther bedankte sich.
»Aber sagen Sie mal, wo sind denn die ganzen Leute?«, fragte Silke neugierig.
»Die sind alle beim Schießen.«
»Beim Schießen?«, wiederholte das frischvermählte Paar wie aus einem Mund verblüfft, wobei Silke dachte, sie hätte sich nur verhört, und Günther überzeugt war, er hätte die junge Frau aufgrund ihres ausgeprägten Dialekts einfach nur falsch verstanden.
»Ja, in einer Nebenstraße wird gerade ein Film gedreht.«
»Ach so, ein Film«, sagte Günther und lachte. »Und ich dachte schon, Sie meinen mit Schießen das hier.« Er formte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine Pistole, fuchtelte damit herum und imitierte das Geräusch von Schüssen.
Die Bedienung lachte. »Nein, ich meinte damit natürlich die Filmaufnahmen.«
Nachdem sie wieder hinter der Theke verschwunden war, ging auch Günther noch rasch auf die Toilette. Anschließend verließen sie den Saloon.
Sie wandten sich nach rechts und hielten sich im Schatten der Häuser. Nebenan lag ein Video- und DVD-Verleih. In den Schaufenstern wurden allerdings nur Filme beworben, von denen sie noch nie gehört hatten. Danach kam ein Laden, in dem man von Filmplakaten über kleine Plastikfiguren und Modellsätze bis zu großen Pappaufstellern alles kaufen konnte, was auch nur im Entferntesten mit dem vorherrschenden Thema Film zu tun hatte.
»Die Einwohner müssen ja echt total filmbegeistert sein«, stellte Günther fest.
»Sieht ganz danach aus. Und dann wird hier zufällig auch noch ein richtiger Film gedreht.«
»Warum sehen wir uns das nicht aus der Nähe an, bevor wir fahren?«, schlug Günther vor.
Silke war sofort einverstanden. Sie kauften im Drugstore mehrere Kleinbildfilme für ihre Kamera und erkundigten sich bei dem älteren, glatzköpfigen Verkäufer nach den Dreharbeiten. Er war ebenfalls sehr hilfsbereit, ging sogar mit ihnen aus dem Laden und erklärte ihnen dort gestenreich den Weg. Sie bedankten sich, überquerten die Straße und gingen zur nächsten Querstraße.
Noch immer war es, vor allem in der prallen Sonne, so heiß, dass ihnen schon nach wenigen Schritten der Schweiß aus allen Poren strömte. Doch das störte sie momentan gar nicht so sehr, denn die Begeisterung darüber, bei richtigen Dreharbeiten zugucken zu können, hatte sie erfasst und überstrahlte alle Beschwerlichkeiten.
Als sie um die Ecke bogen, konnten sie eine große Ansammlung von Leuten sehen, die unter einer als Sonnenschutz dienenden Plane vor einem