The unseen souls. Delia Muñoz

The unseen souls - Delia Muñoz


Скачать книгу
Zeit schreibst. Vielleicht bekommst du dann ein bisschen mehr Gefühl dafür“, erklärte er ihr.

      Jen starrte ihn entgeistert an, doch bevor sie protestieren konnte, fügte er noch hinzu: „Und jetzt verlass bitte den Unterricht.“

      Das war ja wohl die Höhe! Und überhaupt war sie ja nicht einmal bis ins Klassenzimmer gekommen. Okay, sie war ein paar Mal zu spät gekommen, aber deswegen einen 4-Seitigen Aufsatz schreiben?! Trotzig setzte sie den Cap wieder auf und antwortete, um Selbstbeherrschung ringend: „Aber natürlich.“ Dann drehte sie sich um, warf sich ihr langes Haar über die Schulter und stolzierte den Gang entlang aus der Schule raus. Immerhin musste sie jetzt zwei Englischlektionen weniger in der Schule herum sitzen. Sobald sie vor dem Schulgebäude angekommen war, stellte sie sich wieder auf ihr Board und fuhr in Richtung ihres Hauses. Vor dem Hügel hielt sie an, plötzlich unsicher.

      „Ich gehe jetzt ganz bestimmt nicht nach Hause!“, sagte sie leise zu sich selbst - die Gefahr, dass ihre Mutter noch dort war, war zu groß. Sie wollte ihr nicht erklären müssen, warum sie schon wieder nach Hause kam. Also eilte sie auf ihren Lieblingsort zu: Das Haus Lupos.

      Jen hatte sich bis jetzt nicht erklären können, weshalb das Haus einen Namen trug, aber das war noch das Normalste am Ganzen. Während sie auf Lupos zuging, konnte sie wie immer den Blick nicht von dem alten Gruselhaus lassen. Die Fenster waren verbogen und schmutzig, die Türe war alt und klemmte seit längerem und die Wände waren einst von einem hellen Weiß gewesen, jetzt aber von Spinnenwaben überzogen, mit Sprüngen im Beton verziert und so grau wie die Haare ihres Großvaters Martin. Aus irgendeinem Grund schien die Sonne jeweils von einem bestimmten Winkel aus, sodass das Haus gespenstisch aufleuchtete.

      Aber im Laufe der Zeit hatte sich Jen an das mysteriöse Aussehen gewöhnt und empfand es nicht mehr als bedrohlich. Sie betrat das Erdgeschoss und eilte die verstaubte Wendeltreppe hinauf, bis sie beim Dachboden ankam. Der Dachboden war vollgestellt mit alten Möbeln und grässlichen Bildern, aber das störte Jen nicht mehr. Das verlassene Haus bot ihr seit fünf Jahren einen Zufluchtsort, der einzige Ort, an dem sie in Ruhe gelassen wurde. Die ursprüngliche Besitzerin des Hauses war vor fünf Jahren gestorben, scheinbar war es in den Besitz eines Enkels übergegangen. Aber Jen hatte seither noch nie jemanden hier angetroffen, mal von Ratten abgesehen. Für gewöhnlich hielt sich keine Menschenseele hier auf.

      Bis heute.

      Vor ihr saß ein Junge und starrte sie an.

      Jen starrte zurück.

      Und auf einmal war der Junge weg.

      Jen erschrak und blinzelte, und als sie wieder hinsah, war der Junge auf einmal wieder da. Er saß an der genau gleichen Stelle und starrte sie an. Jen holte tief Luft, plötzlich verspürte sie leichte Kopfschmerzen. Wahrscheinlich war das nur ein Nebeneffekt von ihrer Wut auf Gollum und der Junge war gar nie weg gewesen. Doch die eigentliche Frage war, was machte der Junge überhaupt hier?

      „Hallo“, sagte Jen, ausnahmsweise nicht so vorlaut und beäugte die Kiste, auf der er saß.

      Der Junge nickte ihr zu, sagte jedoch nichts. Das Erste, was Jen auffiel, war, dass er stechend blaue Augen hatte.

      „Was machst du hier genau?“, fragte Jen, da er nicht sonderlich gesprächig wirkte.

      „Siehst du doch.“ Seine Stimme war tief und weich, doch das milderte die abweisende Antwort nicht.

      „Wie kommst du darauf, einfach hier rein zu gehen? Wer bist du überhaupt?“ Jen wurde langsam wütend.

      Der Junge fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. „Wie kommst du auf die Idee, einfach hier rein zu kommen?“

      „Das ist seit 5 Jahren mein Ort!“, entrüstete sich Jen, wohlwissend, dass sie keinen rechtlichen Anspruch auf das Haus hatte.

      „Tja, jetzt bin ich halt auch hier.“ Der Junge zuckte mit den Schultern und Jen hätte nie gedacht, dass man diese Geste so arrogant hinbekommen konnte.

      „Pfff“, machte Jen wütend. Ihr fiel beim besten Willen nichts Intelligenteres ein.

      „Wie heißt du denn?“, fragte der Junge beinahe schon amüsiert. Okay, Punkt für ihn, das war etwas intelligenter.

      „Jen.“

      „Ich meine deinen richtigen Namen.“

      Punkt wieder abgezogen. „Jennifer“, schnaubte sie. „Aber allen nennen mich Jen.“

      „Aha.“ Er nickte, als hätte er dadurch die Weisheit des Lebens erlangt.

      „Wie heißt du?“ Jen funkelte ihn an.

      „Nico.“

      Für einen Moment war sie sprachlos. Nico?! Das war doch auch eine Abkürzung!

      „Ich meine deinen richtigen Namen“, äffte sie ihn nach.

      Er lachte, was Jen ziemlich überraschte. Sie hätte nicht gedacht, dass er etwas anderes als ein arrogantes Mundwinkelzucken hinbekommen würde. Andererseits kannte sie ihn auch erst seit zwei Minuten. „Nico ist mein voller Name. Das ist keine Abkürzung.“

      Überrascht fuhren Jens Augenbrauen in die Höhe. Als Mr.-keine-Abkürzung wieder weg schaute und die Unterhaltung offenbar für beendet hielt, setzte sich Jen auf eine andere Kiste und begann missmutig, ihre Sachen auszupacken und machte sich an den Englischaufsatz.

      „Hausaufgaben?“ Nico hatte offenbar doch beschlossen, dass sie interessanter sei als das misslungene Ölfarbenbild einer alten Frau. Das war aber nett von ihm.

      „Ja.“

      „Hast du keine Schule?“

      „Hast du keine Schule?!“

      „Doch. Aber heute nicht. Lehrersitzung oder so.“

      „Hm“, machte Jen und fragte sich, in welche Schule er wohl ging. In dem Vorort von London gab es viele gute Schulen – selbst wenn es nicht Internate waren – und Jen wusste knapp die Namen der anderen, also könnte sie noch lange raten, wo Nico in die Schule ging.

      „Du hast meine Frage nicht beantwortet“, bemerkte Nico nach einer Weile.

      „Gut beobachtet“, knurrte Jen und wünschte sich mit einem Mal, dass sie wieder in die Schule zurückkonnte. Sie warf sich die rabenschwarzen Haare über die Schulter und schrieb den Titel des Aufsatzes auf das Blatt.

       Zeit... Hm, was gab es da zu sagen?

      Jen kaute ungeduldig auf ihrem Bleistift herum und starrte Löcher in die Luft. Aber ihr fiel einfach nichts Gutes zur Zeit ein. Sollte sie über die Aufteilung der Stunden am Tag reden, die Tage im Monat und die Monate im Jahr? Oder etwas ganz anderes? Vielleicht über Stress und kaputte Wecker? Ihr Blick huschte zu Nico, der immer noch an derselben Stelle saß, und sie überlegte sich, ob sie vielleicht ihn um Hilfe bitten sollte.

      Er begegnete ihrem Blick und hob fragend eine Augenbraue, sodass diese unter seinem dichten schwarzen Haar verschwand, das ihm ins Gesicht fiel. Wieso konnte er eine Augenbraue hochheben? Jen hatte dies tagelang geübt, aber außer Muskelkater am Auge - dass es das überhaupt gab?! - nichts erreicht.

      Schnell sah sie wieder auf ihr Blatt, konnte aber immer noch Nicos Blick auf ihr spüren. Nein, ganz bestimmt würde sie ihm nicht gestehen, dass sie nicht wusste, was sie schreiben sollte. In Mangel einer Beschäftigung nahm sie ihr Etui aus der Schultasche und spitze ihren Stift. Dabei rutschte ihr das lose Pensum aus dem Notizblock, das auf ihrem Schoß lag. Und es segelte ausgerechnet vor Nicos Füße.

      Er hob es auf, und für eine Sekunde war Jen überrascht, dass er es ihr zurückgeben wollte. Doch dann merkte sie, dass er es bloß ansah.

      „He, das ist meins!“, protestierte sie.

      „Ich weiß.“ Er reichte es ihr und Jen riss es ihm aus der Hand.

      „Danke... Was ist?“ Jens Vermutung war doch nicht so fehl am Platz gewesen, was sein Lächeln betraf. Er hatte arrogant den


Скачать книгу